Geschichte, Sachbuch

Wenn Du geschwiegen hättest

Der italienische Schriftsteller und Kulturjournalist Corrado Augias ist in seiner Heimat dafür bekannt, lokalen Legenden auf den Grund zu gehen. Sein Buch »Die Geheimnisse Roms. Eine andere Geschichte der Ewigen Stadt«, vor zwei Jahren im Osburg Verlag erschienen, begeisterte das Feuilleton. Nun hat sich der Italiener den Mythen einer römischen Enklave gewidmet.

In seiner Buchreihe I segreti di ist Augias bereits den Geheimnissen von Paris, London, New York und Rom nachgegangen. Sein neuer Titel Die Geheimnisse des Vatikan. Eine andere Geschichte der Papststadt verspricht jedoch mehr, als er hält. Zwar betritt der Leser, wie vom Verlag angekündigt, mit Augias den Vatikan durch die Hintertür, jedoch wird er anschließend nur durch die allzu bekannten Gemächer geführt. Der Italiener lässt den Leser hinter den Vorhang des Opus Dei blicken, geht den zahlreichen Kriminalgeschichten im Vatikan nach und erinnert an die blutige Geschichte der Kriegermönche des Templerordens oder der Inquisition. Er bereitet seinen Lesern noch einmal auf, was zu Herkunft und Motiven der Jesuiten und Franziskaner, zu den skandalösen Verwicklungen der Vatikanbank in mafiöse Strukturen und zur Historie der Schweizergarde bekannt ist. Doch all diese Informationen kann man bestenfalls als offene Geheimnisse bezeichnen, neu ist all das nicht.

Corrado Augias ist zweifelsohne anzuerkennen, dass er bei seiner Führung über den Quirinal mit Besichtigung von Petersdom, Sixtinischer Kapelle und Lateranpalast auch Türen öffnet, die der Vatikan gern geschlossen hielte – etwa wenn er mit Christina von Schweden und Kardinal Herzog von York zwei praktizierenden Homosexuellen das Kapitel »Zu Ehren zweier Sünder im Petersdom« widmet oder er die mysteriöse Geschichte des Verschwindens der 15-jährigen Emanuela Orlandi mit all den Seitenpfaden zum Papst-Attentat, zur italienischen Mafia und zu Stasi-Verwicklungen darstellt.

9783406613630_cover
Corrado Augias: Die Geheimnisse des Vatikan. Eine andere Geschichte der Papststadt. Aus dem Italienischen von Sabine Heymann. C. H. Beck Verlag 2011. 496 Seiten. 22,95 Euro. Hier bestellen

Es ist auch hervorzuheben, mit welch elegantem Duktus Augias seinen Rundgang durch den Vatikan kulturhistorisch anreichert und dabei Mythen, Fakten und Gerüchte zu spannungsreichen Erzählungen verwebt. Allerdings wirkt er bei seinen historischen Ausflügen nicht immer souverän. In seitenlangen Exkursen führt er den Leser immer wieder von den zugrundeliegenden Fragestellungen weg, ohne dabei das Thema sinnvoll zu vertiefen. Die Skandale und Heimlichkeiten, die man sich mit dem Tritt durch die Hintertür erhofft, bleiben meist aus. Auch was die Schattenwirtschaft des Vatikan betrifft, erfährt man hier wenig, sollte eher zu Gianluigi Nuzzis Buch Vatikan AG greifen.

Etwas mehr Enthüllung hätte man mit Blick auf den herausgebenden Verlag durchaus erwarten können, schließlich ist C.H. Beck auch das Haus von Hubert Wolf, dem deutschen Fachmann, wenn es um Geheimnisse des Vatikans geht. In Büchern wie Papst & Teufel. Die Archive des Vatikan und das Dritte Reich oder INDEX. Der Vatikan und die verbotenen Bücher hat er seinen Expertenstatus eindrucksvoll belegt. Auch Saul Friedländers epochale historische Dokumentation Pius XII. und das Dritte Reich sowie Thomas Brechenmachers Untersuchung Der Vatikan und die Juden sind in dem Münchener Verlag erschienen. Es sind alles Titel, die Wissenslücken schließen und die zum ausgezeichneten Ruf des Hauses beitragen.

Augias passt in diese Reihe jedoch nicht hinein. Das vermeintlich Enthüllende in diesem Buch ist historische Nacherzählung. Zeitnahe Religionskritik auf der Basis neuer Erkenntnisse findet nicht statt. Selbst dann nicht, wenn sie angezeigt wäre. So zeichnen sich die fünf [!] Seiten, die Augias im Nachwort dem Umgang der Katholischen Kirche mit dem Missbrauchsskandal widmet, insbesondere durch ihren verständlichen und nachsichtigen Ton aus. Ein eigenes Kapitel zu dem Thema fehlt. Das Erscheinungsdatum des italienischen Originals (2009) kann dies nicht erklären, denn in den USA und Irland lagen Missbrauchsvorwürfe zu dem Zeitpunkt längst auf dem Tisch.

Offensichtlich wird Augias‘ kirchentreue Linie gegenüber dem Vatikan schließlich im Kapitel »Die römischen Juden zwischen Hitler und Papst Pius XII«. Die historischen Fakten verklärend schreibt er dort, dass »seine [Pius XII.] Passivität schlicht Ausdruck seines Temperaments« gewesen sei und der Papst »bis zu Tränen an der Tragödie des jüdischen Volkes« gelitten hätte. Papst Pius XII., den John Cornwell 1999 als »Hitlers Papst« bezeichnete, wird bei Augias zur tragischen Figur. Diese krude Inszenierung gipfelt schließlich in der Aussage, dass sehr viele Antifaschisten und Juden in kirchlichen Häusern aufgenommen und beschützt worden seien, »die Glücklichsten unter ihnen […] sogar im Innern des Vatikan.« Hier wird Augias dem Untertitel seines Buches gerecht und erzählt eine »andere Geschichte« des Vatikans; eine ziemlich verquere. War das Buch bis zu diesem Punkt eine vielseitige Kulturgeschichte der Papststadt, wird es hier zum Pamphlet. Si tacuisses, philosophus mansisses! Selten war Boethius Sinnspruch passender.