Der kubanische Autor Leonardo Padura anlässlich seines neuen Romans »Der Mann, der Hunde liebte« im Gespräch über kommunistische Fundamentalisten, Hundeliebende Männer und unverschämte Leser, die geliehene Bücher nicht zurückgeben.
Herr Padura, Sie erzählen in ihrem neuen Roman »Der Mann, der Hunde liebte« die Geschichte des Attentats auf Leo Trotzki durch den spanischen Kommunisten Ramon Mercader aus drei verschiedenen Perspektiven. Zum einen entfalten Sie vor dem Leser das Leben Leo Trotzkis im Exil, zum zweiten zeigen Sie Ramon Mercaders Weg zum Attentat und zum dritten erfinden Sie den Erzähler, Ivan Maturell, der Mercader an dessen Lebensende begegnet und für den Leser die beiden Geschichten aufgezeichnet hat. Welche Perspektive fanden Sie am spannendsten.
Die größte Offenbarung und die interessanteste Linie war zweifellos das Leben von Mercader. Denn es ist kaum etwas von ihm bekannt. Ich musste eine Geschichte, ein Leben, eine Persönlichkeit um ihn herum erfinden. Ausgehend von dem wenigen, was man von Ramon Mercader wusste, bestand die große Herausforderung darin, eine Idee davon zu bekommen, wie diese Figur aussehen sollte, wie Sie gedacht hat, worin ihre Zweifel und Vorbehalte bestehen konnten? Ich musste also ein Gebäude errichten, hatte aber nur sehr wenig Steine. Bei Trotzki ist das ganz anders. Jede Minute seines Lebens ist aufgezeichnet, sein Denken und seine Gedankenwelt hatte er Zeit seines Lebens selbst protokolliert. Hier musste ich also wenig erfinden. Und Ivan lebt in der Zeit, in der ich auch lebe, ein Mann wie Du und ich. Mercader aber ist eine vollkommen einzigartige Persönlichkeit. Ich musste manchmal Ereignisse einfügen, von denen niemand sicher weiß, ob sie wirklich stattgefunden haben oder nicht. Gleiches gilt für seine Gedankenwelt, von der mir keiner sagen kann, ob die Gedanken, die ich ihm zuschreibe, seine waren oder nicht. Im Ganzen glaube ich, ist mir ein ziemlich genaues Abbild von Mercaders Leben gelungen. Ich sage ohne falsche Eitelkeit, dass ich zwischendurch sicher mehr über sein Leben gewusst habe, als er selbst.
Trotzkis Leben ist bis ins Detail dokumentiert, Ivan als Erzähler komplett erfunden. Von dem Leben des Ramon Mercader, einem spanischen Kommunisten, der im stalinistischen Russland für das Attentat auf Leo Trotzki ausgebildet wird, weiß man fast nichts. Wie sind Sie genau vorgegangen, um ein Leben zu rekonstruieren, von dem man so gut wie nichts weiß, weil es immer geheim bleiben musste?
Ich habe alle Information zu Mercader aufgetrieben, die es gibt. Darunter existiert wenig Schriftliches. Es gibt praktisch nur ein Buch, das sich mit seinem Leben beschäftigt und einigermaßen informativ ist. Aber man muss bei diesem Buch sehr vorsichtig sein, denn der Autor dieses Buches ist Ramon Mercaders Bruder Luis und damit sehr voreingenommen. Außerdem habe ich Filme gesehen, etwa den Film Das Mädchen und der Mörder – Die Ermordung Trotzkis von Joseph Losey. Besonders wichtig war auch der Dokumentarfilm Asaltar los cielos (dt. Den Himmel stürmen, siehe unten) der zwei spanischen Journalisten Javier Rioyo und José Luis López-Linares, die die historisch letzte Möglichkeit hatten, die Personen zu interviewen, die Mercader gekannt haben. Und die dritte Quelle waren mündliche Überlieferungen. Zwar wollten diejenigen, die am meisten über ihn wussten, nicht mit mir sprechen. Ich habe aber auch mit Leuten gesprochen, die häufig bei ihm zuhause waren, aber gar nicht wussten, dass das dieser Ramon Mercader war. Die Freunde von seinen Kindern dachten zum Beispiel, dass dieser Mann der Spanier Jaime Lopez sei. Ich habe auch mit seinem Arzt gesprochen und auch dieser dachte, sein Patient heiße Jaime Lopez. Und einige Leute, die tatsächlich wussten, dass es sich um jenen Mann handelte, haben mir mal sehr wichtige Dinge erzählt und dann wieder Sachen, die völlig unbedeutend waren. Seltsamerweise haben die, die nicht wussten, dass es sich um Ramon Mercader handelte, oft das Interessanteste aus seinem Leben erzählt. Zum Beispiel, wie er mit seinen jungen Hunden umgegangen ist – ein für den Roman sehr wichtiges Element.
Welche Rolle spielen die Hunde, die überall in dem Roman auftauchen. Ob Trotzki, Mercader oder Ivan – sie alle haben Hunde und lieben sie.
Die Hunde bringen den menschlichen Aspekt in die Geschichte. Wer Hunde liebt, kann nicht unmenschlich sein. Bei dem kubanischen Erzähler Ivan und seiner Frau Anna ist die Beziehung zu den Hunden gewöhnlich, denn sie sind zwei völlig normale Figuren. Bei Trotzki ist das etwas anderes. Als er ins Exil geschickt wurde, war es ihm wichtig, seinen Hund mitzunehmen. Der Hund hat ihn in den Jahren in der Türkei begleitet, starb jedoch, bevor er nach Frankreich ging. Seine Liebe zu den Hunden blieb. In Frankreich kümmerte er sich um die Hunde auf der Straße. Und später in Mexiko hatte Trotzki ebenfalls Hunde. Durch die Beziehung zu den Hunden hat Trotzki versucht, sich von der Obsession, Tag und Nacht Politik machen zu müssen, zu befreien. Der menschlichste Zug im Wesen Trotzkis war seine Beziehung zu den Hunden. Es ist auch belegt, dass Ramon Mercader als Kind in Barcelona Hunde hatte. Sein Bruder Luiz bestätigte mir, dass Ramon seiner Mutter Carrida nie verziehen habe, dass er seine Hunde verlassen musste. Und als er aus Moskau nach Kuba ging, hatte er seine Hunde mitgenommen. Und über diese Hunde ist es mir gelungen, diese Geschichte zu konstruieren. Denn die Tatsache, dass Ramon Mercader in Kuba Hunde besaß, die dort sehr selten sind, hat mir den Einstieg ermöglicht, dass er einen Kubaner trifft, mit dem er sich anfangs über diese Hunde unterhält und dem er schließlich seine Lebensgeschichte erzählt.
Es gibt eine kleine, interessante Geschichte dazu. Von Mercaders physischer Präsenz in Kuba habe ich nur fünf, sechs Fotografien gesehen. Die Hunde hingegen haben in dem kubanischen Film Die Überlebenden von Tomás Gutiérrez Alea mitgespielt. Alea ging durch sein Viertel und sah ihn mit seinen Hunden. Er brauchte für den Film zwei sehr elegante Hunde. Ich weiß nicht, wie er ihn davon überzeugen konnte, die Hunde in dem Film mitspielen zu lassen, aber sie taten es. Der Film ist einer der wenigen Beweise für Mercaders Anwesenheit in Kuba.
Selbst in der Sprache der Revolutionäre tauchen die Hunde metaphorisch immer wieder auf.
Hier passiert etwas ganz anderes. Ich glaube, dass vor der Niederschrift der Bibel der Hund mit den Dämonen und dem Schlechten der Welt in Verbindung gebracht wurde. Daher greift die Sprache der Revolution oft auf den Begriff des Hundes zurück, etwa bei Wendungen wie »Du verräterischer Hund!«. Übrigens griffen die Revolutionäre zum Fluchen öfter auf den Hund zurück als bspw. auf den Priester, der in der revolutionären Sprache ebenfalls gern als Schimpfwort benutzt wird.
Apropos Priester. Im Roman wird oft die atheistische Haltung der Figuren betont. Verwenden Sie den Atheismus als Charakterisierung des kommunistischen Systems oder der Personen?
Es ist beides. Der Marxismus verneint alles, was Nichts mit der materiellen Existenz zu tun hat. Deswegen kann es keinen gottgläubigen Kommunisten geben, gleichwohl Kommunisten durchaus eine Neigung haben, neue Götter zu schaffen – etwa Stalin, Mao, Fidel Castro. Bei den Personen in diesem Roman steht das Fehlen eines Glaubens aber auch für das Fehlen einer Lebensperspektive. Das hat nichts mit religiöser Philosophie zu tun, sondern mit der Lebenssituation, in der sie sich wieder finden: Mercader muss sich in eine Person der Finsternis verwandeln, dessen Mission es ist, zu gehorchen. Trotzki ist ein Berufsrevolutionär, dessen Auftrag darin besteht, die Revolution zu führen. Trotzki wurde aber Revolutionär, weil er das wollte und auch Mercader hatte sich für seinen Weg als Mörder entschieden.
Ist Mercader eine Metapher auf den modernen Fundamentalisten?
Wäre er noch am Leben, wäre Mercader – mehr als eine Metapher – ein lebendes Beispiel für den modernen Fundamentalisten. Er handelt genauso wie ein Fundamentalist. Wie ein Selbstmordattentäter, der in den Supermarkt geht und sich dort in die Luft sprengt, geht Mercader in Trotzkis Haus, wohl wissend, dass er da nicht mehr lebend rauskommt. Das Dramatische und Tragische daran ist, das Trotzki selbst ihm das Leben rettet, indem er seine Leibwächter auffordert, seinen Mörder nicht zu töten, damit er sich für seine Tat rechtfertigen muss.
Dennoch hat dieser moderne Fundamentalist bis zum Schluss Zweifel. Seine Geschichte ist letztendlich auch die Geschichte einer Suche nach Anerkennung.
Das ist richtig. Bis zum Schluss war er der Überzeugung, dass er eine revolutionäre Mission zu erfüllen hat. Die kommunistische Struktur bedingt absoluten Gehorsam und Mercader hat den übergeordneten Kommunisten zu gehorchen. Dabei hat er, denke ich, ebenso Zweifel gehabt, wie Fundamentalisten heute auch ihre Zweifel haben. Denn als ein in einer christlichen Umgebung aufgewachsener atheistischer Kubaner glaube ich nicht, dass irgendeine Religion oder Ideologie jemanden dazu bringen kann, die Sache wichtiger zu nehmen als sein Leben. In diesem Sinne bin ich mit den Christen einer Meinung, denn ich denke, das Leben ist dem Menschen heilig.
Lassen Sie uns über die Konstruktion des Romans sprechen. Mich hat »Der Mann, der Hunde liebte« in weiten Teilen an »Kaltblütig« von Truman Capote erinnert. Der Leser weiß, wie in »Kaltblütig« auch, von Anfang an, wer Opfer und wer Täter ist. Damit nicht genug, tritt der gleiche Effekt wie in Capotes Kriminalreportage ein: der Täter ist dem Leser geradezu sympathisch.
Ich habe an diese Parallele nicht gedacht, aber sie ist sehr gut möglich. Ich glaube, wenn man sich zu sehr an einen Mörder annähert, dann beginnt man, Menschlichkeit beziehungsweise menschliche Züge zu entdecken. Bei Mercader aber kommt noch etwas hinzu. Man merkt im Laufe der Geschichte, dass er nicht nur der Henker, sondern auch das Opfer war. Deswegen fängt Ivan – und mit ihm der Leser – an, Mitleid mit ihm zu haben. Aber am Ende des Romans fällt Daniel, ein Freund Ivans, das abschließende Urteil, indem er sagt: Vergiss nie, dass dieser Mann kein Mitleid verdient, denn er war einer von den Typen, die Stalin geholfen haben, 20 Millionen Menschen zu ermorden.
Der Roman ist auch ein Abgesang auf den Kommunismus, auf ein System, das auf die Vernichtung des Individuums zugunsten der Masse aufbaut. Wie kommt ein solcher Roman in ihrer Heimat Kuba an?
Die Rezeption des Romans erfolgte in Kuba in zwei Phasen. Mehr Menschen, als ich dachte, hatten sich vor Erscheinen der kubanischen Ausgabe die spanische besorgt, weil sie wussten, dass dieser Roman existierte und sie sehr interessiert waren. Erst später wurde das Buch in Kuba in einer Auflage von 4.000 Exemplaren verlegt, so dass inzwischen auch viele weniger informierte Kubaner das Buch lesen können. Die meisten Menschen, die mit mir über den Roman sprachen, haben mir gedankt, weil ihnen die Geschichte eine Welt eröffnete, die sie bisher nicht kannten – die von Trotzki und die von Mercader. Was den kubanischen Lesern am meisten von dieser Geschichte in Erinnerung bleibt, ist die Selbsterkenntnis der eigenen Angst beim Lesen – obgleich der Kommunismus auf Kuba die Exzesse stalinscher Ausprägung nicht kannte. Die Methoden aber waren die gleichen – und eine dieser Methoden besteht darin, den Menschen Angst einzuflößen.
Auch wenn nur 4.000 Exemplare dieses Romans in Kuba gedruckt wurden, lesen den Roman sicher mehr. Man erzählt sich, dass kubanische Leser für die Lektüre ihrer Bücher insgesamt vier Tage Zeit hätten. Drei Tage, um sie zu lesen und einen vierten Tag, um das Buch dem eigentlichen Besitzer zurückzugeben. Mit mehr als 700 Seiten kein einfaches Unterfangen für Ihre kubanischen Leser.
Auf Kuba hat ein Buch ein anderes Schicksal als im Rest der lesenden Welt, das ist richtig. Viele Menschen bekommen es in die Hand. Wenn Du in Deutschland, Spanien oder England ein Buch kaufst, gehört es Dir. Und wenn es Dir gefällt, dann empfiehlst Du deinen Freunden: »Kauf dir das Buch!« Auf Kuba ist das anders. Wenn Du ein interessantes Buch liest und dass Deinen Freunden sagst, dann antworten die: »Na los, gib schon her!« Ein Buch hat auf Kuba eine deutlich größere soziale Funktion als anderswo. Ich finde das sehr schön. Das Buch wird hier zum Lebensmittel für viele Personen. Allerdings birgt dieses System auch ein Risiko. Normalerweise leiht man nur seinen Freunden ein Buch. Wenn Du ein Buch allerdings nicht zurückbekommst, dann kannst Du sicher sein, dass es nicht der Beste Deiner Freunde war, dem Du das Buch geliehen hast.
Am Ende des zweiten der drei Romanteile sagt der Erzähler Ivan, dass er die Geschichte aufschreibe, weil sie ihn verfolgt. Wie sehr hat Sie diese Geschichte verfolgt?
Der Roman hat mich viele Jahre verfolgt, nicht im dramatischen, sondern im mentalen Sinne. Seit ich mich mit Trotzki beschäftigt habe, interessiert mich diese Person. In Mexiko habe ich sein Wohnhaus besucht und mir außerhalb Kubas Informationen zu ihm besorgt. Später, als ich erfahren habe, das Mercader in Kuba gelebt hat, wurden die Hunde, die mich verfolgt haben, immer lauter. Als nach dem Fall des Ostblocks die Archive geöffnet wurden, entdeckte man die Schrecken der stalinistischen Zeit. Mit meinen eigenen Erfahrungen als Mensch verfolgten mich also ziemlich viele Hunde, die mich schließlich dazu gedrängt haben, diesen Roman zu schreiben. Es gibt noch etwas Wichtiges, was der deutsche Leser nicht weiß. Es gibt noch einen anderen Roman von mir, in dem ich die Geschichtsschreibung as wichtiges Element benutze. Er heißt »Der Roman meines Lebens« und ist, wie ich finde, mein am besten strukturiertes Werk. Er ist in einem sehr ausgereiften literarischen Stil verfasst. Mein Verleger aber befürchtet, dass dieser Roman hier in den deutschsprachigen Ländern nicht erfolgreich sein kann, weil das Thema zu kubanisch ist. Ich aber glaube, dass Dinge wie Neid, Hass und Angst – um die es in dem Roman geht – fundamentale und allgemeingültige menschliche Eigenschaften sind.
Herr Padura, vielen Dank für das Gespräch.
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