Gesellschaft, Sachbuch

Ehrenmord in Deutschland

Drei Jahre lang haben die Journalisten Matthias Deiß und Jo Goll recherchiert, um den Motiven und Folgen des Ehrenmords an Hatun Sürücü auf den Grund zu gehen. Übermorgen zeigt die ARD ihre Fernsehdokumentation, am Tag danach erscheint ihr Buch zum Thema.

Eine »kaltblütige Tat mit Hinrichtungscharakter« nannten die Richter am Berliner Kriminalgericht Moabit den Mord an der Deutsch-Türkin Hatun Sürücü durch ihren Bruder Ayhan. Mitangeklagt waren auch seine beiden Brüder Mutlu und Alpaslan Sürücü, die jedoch aus Mangel an Beweisen von dem Berliner Gericht freigesprochen wurden. Ayhan hatte dem Richter gesagt, dass er die Tat allein und ohne Mithilfe seiner Familie geplant und durchgeführt habe. Seine damalige Freundin Melek A. behauptete vor Gericht hingegen, dass alle drei Brüder am Mord Hatun Sürücüs beteiligt gewesen seien. Seither lebt sie mit neuer Identität im Zeugenschutzprogramm irgendwo in Europa. Ayhans Brüder Mutlu und Alpaslan sind in die Türkei geflohen. Hier sind sie sicher vor dem internationalen Haftbefehl, mit dem sie immer noch gesucht werden. Die Türkei liefert ihre eigenen Staatsbürger nicht aus.

Zweifel hatte es an Ayhans Aussage immer gegeben, erst recht, nachdem die Brüder Deutschland fluchtartig verließen. Aber ausgeräumt werden konnten sie nie. Die Fernsehjournalisten Matthias Deiß und Jo Goll haben drei Jahre lang recherchiert, um die Antwort auf eine Frage zu bekommen: Wie konnte es zu einem Ehrenmord in Deutschland kommen? Dazu haben sie stundenlange Interviews mit dem Mörder Ayhan Sürücü in der Berliner Haftanstalt geführt, sind den Brüdern in die Türkei nachgereist und haben Kontakt zur Hauptbelastungszeugin Melek A. aufgenommen. Sie haben mit den damaligen Freunden von Ayhan in Kreuzberg gesprochen, mit Zeugen des Prozesses, mit Politikern und Menschen aus dem Umfeld der Familie Sürücü. Das Ergebnis ihrer Recherchen ist ein 45-minütiger Dokumentarfilm, der heute Abend um 23 Uhr in der ARD erstmals ausgestrahlt wird, sowie ein ca. 250 Seiten umfassendes Buch, welches morgen im Buchhandel erscheint. Bereits am Dienstag stellten die Journalisten Buch und Film in Berlin vor.

9783455850079
Matthias Deiß & Jo Goll: Ehrenmord. Ein deutsches Schicksal. Verlag Hoffmann & Campe 2011. 256 Seiten. 19,99 Euro. Hier bestellen

Was ist in dieser Familie eigentlich passiert? Diese Frage hätten sie sich immer wieder gestellt, berichten Deiß und Goll gegenüber der versammelten Hauptstadtpresse. Welche Werte sind dafür verantwortlich, dass Hatun Sürücü in den Augen ihrer Brüder ihr Lebensrecht verwirkt hatte? Dass ihr ihre Brüder das Lebensrecht absprachen, darüber besteht kein Zweifel. Ayhans radikalislamischer Bruder Mutlu, mit dem sie in Istanbul sprechen konnten, bestätigte das, indem er sagte: »Unzucht ist eine Straftat. Nach Allahs Gesetz wäre die Strafe für Unzucht die Steinigung.« Traditionelle Werte, klare Regeln und ein vor 35 Jahren importierter, und niemals reflektierter Ehrbegriff wurden in der Familie Sürücü gelebt. Ayhan erinnert sich in der Dokumentation, das hinter dem Begriff der Ehre in seiner Familie »in Klammern immer Frau« gestanden habe. Diese Ehre hatte Hatun Sürücü in den Augen ihrer Brüder beschmutzt, weil sie sich von dem Cousin scheiden ließ, den sie 16-jährig heiraten musste, weil sie wechselnde, deutsche Freunde hatte und weil sie schließlich mit ihrem Sohn der Familie den Rücken zukehrte, um sich von den traditionellen Werten zu befreien. Sie sei letztlich die einzige in der Familie gewesen, der der Absprung gelungen sei und die ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen gelebt habe, sagten Deiß und Goll. Dieses selbstbestimmte Leben wurde ihr schließlich zum Verhängnis, mitten in Deutschland. Nicht zufällig trägt das Buch der beiden Journalisten daher den Untertitel »Ein deutsches Schicksal«.

Der Ehrenmord an Hatun Sürücü ist auch ein Integrationsdrama – dies wird deutlich, auch wenn Goll und Deiß zu keinem Zeitpunkt einen Integrationsfilm oder ein Integrationsbuch machen wollten. Mehrere Fragen werfen Film und Buch auf: Warum lebte Ayhan lange Zeit isoliert in der Kreuzberger kurdisch-türkischen Parallelgesellschaft und lernte erst im Knast deutsche Freunde kennen, die ihn zum Reflektieren seines Weltbildes angeregt haben? Wieso radikalisierte sich Mutlus Islambild ausgerechnet im Wehrdienst, als er erstmals Kontakt zu Deutschen hatte? Wieso wurde sofort die gesamte Familie in Sippenhaft genommen (Berlins sozialdemokratischer Innensenator Ehrhard Körting sagte damals, dass es besser sei, wenn die gesamte Familie Deutschland verlassen hätte), obwohl sich nicht wenige der acht Geschwister Hatun Sürücüs von der Tat distanzierten? Aufklärung sei das Anliegen von Buch und Film, sagten die beiden Autoren am Dienstag vor der Presse. Um die drängenden Fragen der Integration können sie dabei nicht herumkommen.

Wie steht Ayhan heute, sechs Jahre nach der Tat, zu seinem Handeln? Ist er immer noch der Meinung, richtig gehandelt zu haben? Spricht er seiner Schwester Hatun immer noch ihr Lebensrecht ab? Wie steht sein Bruder Mutlu heute dazu? Was sagt Melek A., die ihre Familie verlassen musste, um im Zeugenschutzprogramm unterzukommen – aus Angst, ins Visier der Sürücüs zu geraten. Matthias Deiß und Jo Goll gehen mit Dokumentarfilm und Buch den Hintergründen und Umständen des Delikts auf den Grund und bringen Licht in diesen dunklen Fall.

Verlorene Ehre: Der Irrweg der Familie Sürücü. Mittwoch, 27. Juli 2011, 23.00 – 23.45 Uhr. ARD (Nachtrag: in der Mediathek des RBB kann die Doku inzwischen gestreamt werden)