Literatur, Roman

Das Leben ist oft anders

Michael Göring erzählt in seinem Debütroman »Der Seiltänzer« von einer lebenslangen Freundschaft und einem katholischen Priester, der lautstark innerkirchliche Reformen fordert und plötzlich unter Missbrauchsverdacht gerät. Ein scheinbar geordnetes Leben zerfällt vor den Augen des Lesers.

Kaum etwas hat die deutsche Gesellschaft so sehr aufgewühlt, wie die Aufdeckung der zahlreichen Missbrauchsfälle in pädagogischen Einrichtungen. Jahrzehntelang hat das Bildungsbürgertum weggeschaut, Journalisten sind Hinweisen nicht nachgegangen und Betroffene haben sich in Schweigen gehüllt. Dies ist vorbei. Seit der Direktor des Berliner Canisius-Kollegs, der Jesuit Klaus Mertes, Anfang letzten Jahres an die Öffentlichkeit ging und die Verbrechen des Lehrpersonals an seiner Einrichtung offenlegte, ist nichts mehr wie zuvor. Immer mehr Missbrauchsopfer melden sich zu Wort, Eltern schauen genau hin und die Medien wenden sich der Thematik mit großer Aufmerksamkeit zu. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Thema in die zeitgenössische Kunst und Kultur einfließt. Der Vorsitzende der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Michael Göring, hat nun den ersten Roman vorgelegt, der sich der Missbrauchsthematik seit Canisius und Odenwaldschule zuwendet.

Im Mittelpunkt von Michael Görings Entwicklungsroman Der Seiltänzer steht der katholische Priester Andreas Wingert. Er gehört zu den kritischen Köpfen in der katholischen Sphäre – gerade deshalb ist das, was er zu sagen hat, auch spannend zu lesen. In der westfälischen Kleinstadt Waldenburg ist der Priester ein vehementer Kritiker der kirchlichen Vertuschungsstrategie. Er fordert öffentlich nicht nur Konsequenzen für diejenigen, die sich schuldig gemacht haben, sondern meint, dass die Kirche auch aus diesen Vorfällen lernen und Schlussfolgerungen für ihr eigenes, rigides Regelwerk treffen muss. Er fordert nichts Geringeres, als weitreichende innerkirchliche Reformen. »Aber ich hätte nichts dagegen, im Augenblick ein kleiner Stachel im Fleisch zu sein«, vertraut er seinem besten Freund Thomas Johannmeyer bei einem Glas Wein an.

Doch wer sich so exponiert, muss nach Feinden nicht suchen. Plötzlich gerät er selbst in Verdacht, sich nicht »sittsam« gegenüber Jugendlichen verhalten zu haben. Zweideutige Fotos aus der Vergangenheit tauchen auf und ein Gemeindemitglied, Frau Wahnmut, wendet sich an seine Diözese. All dies würde Andreas Wingert nicht umhauen, wenn sich durch die Aufdeckung der Missbrauchsskandale die Atmosphäre gewandelt hätte, in der eine Unklarheit zum Verdacht, eine Mutmaßung zur Verurteilung wird. Wie soll er sich verhalten, wie auf die Briefe und die Vorwürfe der Wahnmut reagieren? Fragen wie diese bespricht er eigentlich mit seinem besten Freund Thomas Johannmeyer, doch dieser liegt nach einem Herzinfarkt im Koma.

Der Roman setzt auf der Rückfahrt von Andreas‘ Krankenhausbesuch ein. Er erinnert sich an die gemeinsame Zeit mit Thomas, um dessen Leben er fürchtet. Zugleich aber treiben ihn die Fragen um, die er nicht bei seinem Vertrauten aus Kindertagen loswerden konnte. Der katholische Priester muss sich selbst helfen und beginnt, über sich, seinen Werdegang und die lebenslange Freundschaft mit Thomas nachzudenken. Voller Rückblenden und Erinnerungen versucht Andreas Wingert, zum Kern seines Seins hervorzudringen. Denn hinter der Frage, wie gehe ich mit den haltlosen Vorwürfen um, steht die Sehnsucht nach einem Neuanfang.

9783455400991
Michael Göring: Der Seiltänzer. Verlag Hoffmann & Campe 2011. 320 Seiten. 19,99 Euro. Hier bestellen

Andreas Wingert fällt sein Dasein als katholischer Priester keineswegs leicht. Den Zölibat hält er für anachronistisch, immer wieder zieht es ihn in die Arme von Lisa, seiner heimlichen Geliebten, von der niemand wissen darf. Sexuell enthaltsam war er immer nur in Phasen seines Lebens, jedoch nie dauerhaft. Wie kommt aber eine solche Person dazu, Priester zu werden, und welche Hoffnungen und Zweifel treiben sie dabei um? Diesen Fragen geht Michael Göring in seinem ebenso klugen wie sensiblen Roman nach, indem er die Entwicklung der lebenslangen Verbundenheit von Thomas und Andreas aus einer Sandkastenfreundschaft heraus nachzeichnet. Sein Roman wird hier im Mann’schen Sinne zum Entwicklungs- und Bildungsroman. Göring führt den Reifeprozess der zwei Freunde glaubhaft vor Augen, indem er sie in Rückblenden gemeinsam ihre Erfahrungen austauschen und reflektieren lässt – seien sie spirituell oder sexuell. Dabei ist er immer nah an seinen Protagonisten, bleibt ganz auf der menschlichen Ebene und hebt nicht ab auf ein neunmalkluges Deuten der Vergangenheit.

Andreas‘ Faszination für das Religiöse beginnt mit der Krebserkrankung seiner Mutter. In einem Moment der Verzweiflung finden sich die beiden Freunde auf den Knien wieder und beten für die erkrankte Frau Wingert. Das Geheimnisvoll-Sakrale des Religiösen, wie es in Bachschen Chorälen und gregorianischen Gesängen, in kirchlichen Fresken, lateinischen Schriften oder in der klösterlichen Stille zu finden ist, lässt ihn nicht mehr los. Wo Thomas Prunk und Reichtum sieht, erkennt Andreas Frömmigkeit und Spiritualität. Aus der kindlichen Faszination am Unbekannten wird intellektuelle Begeisterung und als Student legt Andreas die Germanistik zur Seite und wendet sich der Theologie zu. »Es ist eine mutige Entscheidung, aber ich spüre, dass ich das kann. Ich will Priester werden.« Den amourösen Gelüsten des jungen Studenten, der sich gleichermaßen zu Männern und Frauen hingezogen fühlt, tut dies keinen Abbruch. Als Priester flieht er ein paarmal im Jahr in ein polnisches Hotel, um dort seinem sexuellen Verlangen nachzugeben.

Zugleich fordert dies natürlich die Freundschaft zwischen Andreas und Thomas. Als guter Freund und Vertrauter gibt Thomas immer wieder zu bedenken, dass der Lebensstil seines Freundes keineswegs zu dem Weg passt, den dieser einschlägt. Die Diskussionen und Auseinandersetzungen, an die sich Andreas während seiner Autofahrt erinnert, lesen sich wie ein kritischer Kommentar auf das Selbstverständnis und die Haltung der katholischen Amtskirche gegenüber den Menschen, die sich in ihr wiederfinden. Zölibat, Frauenpriestertum, Kondomverbot, Homosexualität, Priesterkinder bis hin zur Selbstbestimmung der Frau – all das haben die beiden Freunde im Laufe ihrer jahrzehntelangen Freundschaft immer wieder diskutiert. Denn das Leben verläuft oft anders als geplant. Trennungen, Verluste und Entbehrungen führen dazu, dass die eigene Biografie immer wieder diskutiert und an den religiösen Dogmen abgearbeitet werden muss.

Michael Göring hätte es sich einfach machen und mit Andreas Wingert einen konformen Priester ohne Ecken und Kanten schaffen können. Hat er aber nicht – und genau deshalb hat dieser Roman mehr Kraft und Glaubwürdigkeit als jede Mitteilung der Deutschen Bischofskonferenz. Eben weil Wingert zwischen religiösem Pflichtbewusstsein und Lebensdurst schwankt, weil er mit den katholischen Dogmen einerseits in Konflikt gerät und sich andererseits zu ihnen hingezogen fühlt, ist dieser Charakter glaubhaft und authentisch. Er beweist, ähnlich wie der katholische Intellektuelle David Berger, der im vergangenen Herbst mit seiner Lebensbeichte Der Heilige Schein für Aufsehen sorgte, gerade in seiner Uneindeutigkeit sein Menschsein. Andreas Wingert ist, wenn man so will, der Anti-Meissner. Keine radikale Kraft der Gegenaufklärung, sondern ein herausfordernder Aufklärer mit spiritueller Bindung. Einer, der leidenschaftlich gern Seelsorger der Gemeinde ist, den das vatikanische Korsett aber viel zu sehr einengt.

Und eben weil er aus diesem Korsett immer wieder heimlich ausgebrochen ist, ist die Situation, in der er sich als 50-jähriger Priester unter Generalverdacht wiederfindet, umso bedrohlicher. Auch wenn seine Affären nichts mit den Pervertierungen innerhalb der Kirche zu tun haben, so sieht er die Zusammenhänge, die man daraus konstruieren kann – innerhalb der Kirche und außerhalb ohnehin. Michael Göring gelingt es auf beeindruckende Weise, die existenzielle Bedrohung selbst der haltlosesten Verdachtsäußerung in einer paranoiden Gesellschaft begreifbar zu machen. Zugleich entlässt er die katholische Kirche nicht aus ihrer Verantwortung, sondern setzt den Ausflüchten der Würdenträger einen verbitterten Priester, der sich stets in den Dienst der Menschen gestellt hat, entgegen. In Andreas Wingert lässt er den Ärger auf die eigene Amtskirche brodeln:

»Wieder stieg dieser Groll in ihm auf. Groll auf eine Kirche, die solche Situationen, solche existenziellen Einschnitte bei ihren Priestern hätte vermeiden können, wenn sie nur die Anzeichen ernst genommen hätte, statt wegzugucken, zu beschwichtigen, zu versetzen und alles unter der Decke zu halten, bis es nun 2010 gekracht hatte.«

Kann man einfach so von vorne anzufangen. Hätten Andreas und Lisa eine echte Chance? Und was ist mit der eigenen Berufung? Kann er für Menschen da sein und zugleich Mensch bleiben? Der sich selbst befragende katholische Priester Andreas Wingert ist der Mackesche Seiltänzer, der dem Roman seinen Namen gibt. Absurderweise versucht er, auf der unter der Bedrohung ausschlagenden Kordel seines Lebens eine Balance wiederzufinden, die er nie gehabt hat.