Fotografie

Pilgerreisen ohne Glauben

Die Starfotografin Annie Leibovitz hat Orte, die von Menschen und ihren Geschichten erzählen, in poetischen Bildern festgehalten. Ihr Bildband »PILGRIMAGE. Pilgerreisen zu Kultorten« ist eine Hommage an ihre verstorbene Lebensgefährtin Susan Sontag.

Fragt man nach der Wiege der Evolutionslehre, dann werden oft die Galápagos-Inseln genannt. Hier sollen Charles Darwin beim Studium der Finken angeblich die Grundzüge der Evolution bewusst geworden sein. Die Finkenskelette im Naturkundemuseum in Tring in der englischen Grafschaft Hertfordshire gehören daher zu den am meisten abgelichteten Objekten aus der Hinterlassenschaft Darwins. Annie Leibovitz jedoch hat ein sorgfältig abgekochtes, in einem kleinen Kistchen arrangiertes und mit winzigen Buchstaben beschriebenes Taubenskelett abgelichtet. Mit dieser Fotografie rückt sie deutlich näher an die Geschichte der Evolutionslehre heran, als alle Mythen, die sich um Darwin und seine fünfjährige Reise mit der Beagle ranken. Denn die Wiege der Evolutionslehre ist tatsächlich der Taubenzüchterverein in Kent, in dem Darwin als Mitglied viele seiner prägenden Beobachtungen machte.

Charles Darwin, Eleanor Roosevelt, Thomas Jefferson, Abraham Lincoln Sigmund Freud, Buffalo Bill und vielen anderen ist die Fotografin für ihren Bilderreigen PILGRIMAGE. Pilgerreisen zu Kultorten in den letzten Jahren »hinterher gereist«. Die Orte, die von diesen Menschen, ihrer historische Wirkung und ihren Geschichten erzählen, hat sie für ihr Projekt ausgesucht, weil sie eine emotionale Beziehung zu ihnen hat, mit ihnen Erinnerungen verbindet oder schon immer an diesen interessiert war. Die ersten Aufnahmen entstanden spontan.

Skelett einer von Charles Darwin untersuchten Taube, Naturkundemuseum in Tring, Hertfordshire, England 2010 | © Annie Leibovitz. From »Pilgrimage« (Schirmer/Mosel 2011)
Skelett einer von Charles Darwin untersuchten Taube, Naturkundemuseum in Tring, Hertfordshire, England 2010 | © Annie Leibovitz. From »Pilgrimage« (Schirmer/Mosel 2011)

Bei einem Besuch im Wohnhaus der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson fotografierte Leibovitz unter anderem eine Seite aus dem Herbarium der begeisterten Gärtnerin sowie in Nahaufnahme eines ihrer weißen Kleider. Man sieht die schmückenden Ornamente, die Alabasterknöpfe und die Litzen und kann sich förmlich vorstellen, wie sich die menschenscheue und zurückgezogen lebende Poetin am eigenen Kleid erfreute. Dickinson war die Lieblingsdichterin von Annie Leibovitz verstorbener Lebensgefährtin Susan Sontag, mit der sie einst ein »Schönheiten-Buch« plante, um »Orte zu besuchen, die uns am Herzen lagen und die wir sehen wollten«, schreibt Leibovitz in ihrem Bildband.

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Annie Leibovitz: Pilgrimage. Pilgerreisen zu Kultorten. Schirmer/Mosel 2011. 246 Seiten. 49,80 Euro. Hier bestellen

Dieses Buch konnte Leibovitz nach dem Tod ihrer Freundin und Vertrauten nicht mehr machen. Stattdessen hat sie Jahre später eine neue Liste ihrer »spirituellen Kultorte« erstellt, die in PILGRIMAGE versammelt und in atmosphärischen Aufnahmen festgehalten sind. Panoramaaufnahmen, wie etwa die des Flusses Ouse, wo sich die Schriftstellerin Virginia Woolf 1941 ertränkte, stehen gleichberechtigt neben Innenaufnahmen von Wohnhäusern, wie dem des Malerpaars Vanessa Bell und Duncan Grant. Interieurs, wie Sigmund Freuds Couch in seinem Londoner Arbeitszimmer, werden von Detailaufnahmen, etwa die Malkreide der amerikanischen Malerin Georgia O’Keefe, ergänzt.

PILGRIMAGE ist eine Reise in die Vergangenheit, in andere Lebensumstände und in Seelenzustände. Leibovitz Aufnahmen sind nicht Dokumente einer verzweifelten Suche nach einer göttlich-spirituellen Eingebung, sondern sie bezeugen die Existenz des Menschen und seine gegenständliche und geistig-spirituelle Hinterlassenschaft. Mit diesem ebenso imaginativen wie erzählerischen Werk verneigt sich Annie Leibovitz vor diesem Erbe.

2 Kommentare

  1. […] der einen oder anderen Linie. So hätten die Modeaufnahmen von Ellen Auerbach, Diane Arbus, Annie Leibovitz oder Cindy Sherman, von Hellen van Meene oder Keiko Nomura sicher auch einen Platz finden können. […]

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