Literatur, Roman

Warum Giraffen lange Hälse haben

Die Berlinerin Judith Schalansky lässt uns drei Tage lang in den Kopf der Sport- und Biologielehrerin Inge Lohmark blicken. Mit ihrem Buch »Der Hals der Giraffe« beweist die 31-jährige Autorin, dass sie schon jetzt zu den ganz großen ihrer Zunft zu zählen ist.

Für enormen Wirbel sorgte Schalansky bereits mit ihrem Weltbestseller, dem grandios-genialen Atlas der entlegenen Inseln, der 2009 erschien und in Windeseile ausverkauft war. Für den verrückten Mix aus Geschichtserzählung und Illustration wurde der außergewöhnliche Atlas zum schönsten deutschen Buch des Jahres gewählt.

Ihren aktuellen Roman hat Schalansky auch illustriert. In dessen Zentrum steht Inge Lohmark, einer den natürlich-biologischen Prozessen der Evolution ergebenen Lehrerin am Darwin-Gymnasium in einer Kleinstadt Mecklenburg-Vorpommerns. Alles ist hier in die Jahre gekommen, die Region, die Schule, die Lehrerin. Von der neumodernen »Pfropfpädagogik«, in der man hoffnungsvoll »einen Idioten neben einen Streber« setzt, um ihn durch den positiven Einfluss wie eine Obstsorte zu veredeln, hält Inge Lohmark nichts. Ihren Frontalunterricht unterbricht sie nur für unangekündigte Klausuren. »Sonst bekam man am Ende nur Pawlowsche Hunde. Und im Leben klingeln nun mal keine Glöckchen.« Lohmarks Credo heißt Leistung.

Der Hals der Giraffe
Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Suhrkamp Verlag 2011. 224 Seiten. 21,90 Euro. Hier bestellen

Die »blutigen Lebensanfänger«, die sie unterrichtet, teilt sie in unterentwickelte »Knirpse in Grundschulgröße«, großmäulige »Herrentierchen« und ehrgeizige »Pferdeschwanzpferdchen, die den Unterrichtskarren aus dem Dreck ziehen« auf. Dem Hauen und Stechen ihrer Schüler sieht sie gleichgültig zu, die Evolution nimmt ohnehin ihren Lauf. Gut gehen kann das nicht.

Selten zuvor ist in der deutschen Literatur eine Person so authentisch geschildert worden, wie Inge Lohmark in diesem Buch. Auch von der Erzählperspektive erinnert alles an Kafkas Gregor Samsa. Nüchtern, sachlich und abrupt ist die Inge Lohmarks Gedankenwelt. Sie denkt in Satzbrocken und syntaktisch unausgegorenen Phrasen, denn Schalansky geht es im Lohmarkschen Sinne nicht um die Schönheit der Sprache, sondern um deren effektivste Verwendungsweise.

Der Roman ist ein ebenso witziger wie erschlagender Parforceritt durch die Unbilden unserer Zeit. Erst die Abwesenheit der Kultur im Denken der Lehrerin macht deutlich, welch große Bedeutung sie hat. Als sich Inge Lohmark zu einer ihrer Schülerinnen hingezogen fühlt, begreift sie, dass das Leben mehr ist als das evolutionäre Recken und Strecken nach den höchsten Früchten. Doch da ist es bereits zu spät.

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