Comic

Ermittlung mit Geschmack

Die hier beschriebene Comic-Serie ist nichts für schwache Nerven. In der düsteren Halbwelt von »CHEW. Bulle mit Biss!« fließt Blut, es kommt zu Gewalt und Kraftausdrücken kann man nicht ausweichen. CHEW ist ein Actioncomic mit politischem Anspruch – und erreicht bei Jugendlichen vielleicht gerade deshalb mehr als ein Sachbuch zur Ernährungsethik.

Tony Chu ist ein hartnäckiger Ermittler, den so schnell nichts von seinem Weg abbringen kann. Als »Bulle mit Biss!« wird er daher auch im Untertitel der US-amerikanischen Comic-Reihe CHEW bezeichnet, in deren Mittelpunkt er steht. Diese Bezeichnung muss man durchaus direkt verstehen, denn Tony Chu ist ein Cibopath. Der lateinische Wortstamm cibo (dt. Tiere füttern) weist darauf hin, dass dieser Ermittler besondere alimentatorische Eigenschaften zu besitzen scheint – und dem ist auch so. Denn Tony Chu enthüllt in der Vergangenheit liegende Geheimnisse, indem er sich die Informationsträger auf der Zunge zergehen lässt. Einem Stück Pizza kann er entlocken, dass sein Belag aus den zusammengefegten Küchenresten besteht, dem Biss in einen Hamburger folgen Visionen zu den letzten Stunden der den Fleischbelag liefernden Kuh und ein zufälliger Blutstropfen auf seinen Lippen lässt Chu imaginieren, was seinem Besitzer in der nahen Vergangenheit widerfahren ist.

Lassen wir mal zur Seite, dass diese geistigen Visionen natürlich Unsinn sind – nicht wie Tony Chu gestrickte Menschen würden sich wohl mit einem solchen Talent als Sektenguru versuchen – ist die mehr oder minder logische Konsequenz einer solchen Fähigkeit, dass man fleischlastigen Speisen nicht allzu zugeneigt ist. Denn wer will schon bei jedem Bissen das Bolzenschussgerät vor dem inneren Auge sehen oder die Laufmesser einer Hühnerschlachtanlage auf sich zukommen sehen. Dementsprechend ist Tony Chu Vegetarier und Fragen rund um den Themenkomplex Ernährung spielen in den CHEW-Bänden eine prominente Rolle – und das passt wiederum zum Thema der aktuellen diesseits-Ausgabe.

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John Layman & Rob Guillory: CHEW. Bulle mit Biss! Leichenschmaus. Cross Cult 2011. 128 Seiten. 16,80 Euro. Hier bestellen

CHEW. Bulle mit Biss feiert in den Vereinigten Staaten immense Erfolge. Die Serie gewann mit dem Eisner-Award den renommiertesten Comicpreis überhaupt, erhielt außerdem zwei Harvey-Awards, wurde von der New York Times auf Platz 1 der Comicbestseller gesetzt und von MTV zu einem der besten zehn Comics in 2009 gekürt. Dies ist insofern überraschend, als dass Jonathan Safran Foer zwar auch einige seiner Leser in den Staaten dazu gebracht hat, über ihre persönliche Haltung zum Fleischlichen nachzudenken, damit allerdings nicht einen solchen Trend ausgelöst hat, wie dies in Deutschland der Fall ist. Über die Erfolgsgeschichte der Serie gibt es nur Spekulationen, die auch das Autorenduo John Layman und Rob Guillory nicht erhellen kann. Autor John Layman ist es selbst ein Rätsel, warum ausgerechnet diese kriminalistische Hack- & Slash-Vegetarier-Satire derart einschlägt:

Frauen mögen CHEW. Typen, die Comics lesen, geben es ihren besseren Hälften, die normalerweise keine Comics lesen. Und umgekehrt das gleiche Spiel: Leuten, die keine eingefleischten Comic-Leser sind, wird CHEW als Beispiel eines zugänglichen Comics ans Herz gelegt.

Und auch Zeichner Rob Guillory kann sich den Erfolg nicht mit einer reproduzierbaren Formel erklären: »Wir hatten einfach den Schneid, ein großes Risiko einzugehen, indem wir eine originelle Geschichte erzählten, die mit nichts anderem auf dem Markt vergleichbar war. Es kam so, dass jener große Teil der Leserschaft, der CHEW dann begeistert aufnehmen sollte, vom Status Quo der Comiclandschaft gelangweilt und reif für was Neues war.«

Dieses Neue besteht in schnell geschnittenen Szenen in futuristischem Design – anders wäre diese Story auch nicht zu verkaufen. Denn wenngleich hier mit Massentierhaltung, Gammelfleisch, Vogelgrippe und Nahrungsmafia aktuelle Fragen um die Nahrungsmittel- (und insbesondere) die Fleischproduktion aufgegriffen werden, passen die Verhältnisse in CHEW nicht in diese Welt. Im ersten Teil, der den unzweideutigen Titel Leichenschmaus trägt, besteht ein weltweites Verbot von Hühnerfleisch. Schuld ist ein Nahrungsmittelskandal, der Millionen Todesopfer weltweit gefordert hat. Doch wo Verbote sind, sind diejenigen, die sie zu brechen suchen, nicht weit. Der illegale Handel mit Hühnerfleisch blüht, in Hinterzimmern von Restaurants, Clubs und Bars, in abseitigen Etablissements und an einschlägigen Treffpunkten werden für Hühnerkeulen und Hähnchenbrust gigantische Beträge gezahlt.

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John Layman & Rob Guillory: CHEW. Bulle mit Biss! Reif für die Insel. Cross Cult 2011. 128 Seiten. 16,80 Euro. Hier bestellen

Wer wäre für Ermittlungen in dieser Szene besser geeignet als einer, dessen Geschmacksknospen die Funktionen eines Echolots besitzen, wenn es darum geht, Verbrecher zu finden und Tatorte aufzuspüren. Tony Chu wird daher in die Sondereinheit für Nahrungsmittelverbrechen bei der amerikanischen Lebensmittelaufsicht (FDA) berufen, die unter den Vorzeichen der »Geflügel-Prohibition« zur weltweit größten Ermittlungsbehörde ausgebaut wurde. Dort arbeitet Chu mit dem abgeklärten Mason Savoy zusammen, der ebenfalls cibopathische Eigenschaften besitzt und Tony in die Feinheiten der gustatorischen Ermittlungsarbeit einführt. Allerdings steht Savoy mit einem Bein in der Schattenwelt des Verbrechens, so dass die gemeinsamen Ermittlungen im Fall eines ermordeten Hygiene-Inspektors manch überraschende Wendung nimmt und aus dem Ermittlerteam Savoy-Chu erbitterte Feinde werden. Ihnen in den Weg stellen sich Guerilla- und Untergrund-Gruppen mit Namen wie E.G.G. (egg, zu dt.: Ei) und Food-Crime (dt.: Nahrungskriminalität), dubiose Wissenschaftler und andere Fleischfanatiker.

Der Fanatismus findet hier aber nicht nur auf Seiten des Verbrechens statt, sondern auch bei den Gesetzeshütern. Die Art und Weise der Überwachung erinnert nicht zufällig an George Orwell und seinen Big Brother, das doktrinäre Hühnerverbot im Namen des Gesundheitsschutzes greift die Kritik des Briten an Obrigkeitsstaat und Diktatur auf.

Tony Chu ist in dieser Welt zweifelsohne ein komischer Kauz. Von einer seltenen Pedanterie ergriffen will er den Lesern nicht wirklich sympathisch werden. Es bleibt immer eine Distanz zwischen diesem in sich gekehrten, hageren Ermittler – sicher auch, weil man als Leser nicht mit ihm und tauschen möchte. Wer will schon gern von seinen Kollegen dazu aufgefordert werden, fremdes Blut zu lecken, um bei den Ermittlungen mal voranzukommen? Das -path des Cibopathen mag bei vielen Lesern – nicht ganz unabsichtlich – die morphologische Analogie zum Psycho-path-en aufrufen, damit erschließt sich aber nur ein Teil des Tony Chu. Ein nicht zu vernachlässigender Anteil seines Charakters besteht in der Em-path-ie, dem Mitgefühl für seine Umwelt. Auch daraus erklärt sich seine vegetarische Haltung.

Im zweiten Band der Serie setzt sich eine Geschichte fort, die im ersten Band nur am Rande stattfand. Die Gourmetjournalistin Amelia Mintz, hier Saboskriptikerin (hier scheint sich die Wortbildung an das lateinische sapio, zu dt.: schmecken, riechen, Geschmack empfinden anzulehnen), in die sich Tony Chu aufgrund ihrer Kritiken verliebt hat, wird dort in einem Flugzeug von einer unscheinbaren Gestalt entführt. Diese unscheinbare Gestalt ist der Gouverneur des Inselstaats Yamapalü, der unter den Vorzeichen der Hühner-Prohibition eine Frucht entwickelt, die nach Huhn schmecken soll. Die Gallusbeere (gallus, dt.: der Hahn), eine transgenetische Kreation aus Tintenfisch und Ananas, ist noch im Entwicklungsstadium und Amelia Mintz soll als Restaurantkritikerin die Schwachstellen der Beere finden. Und ausgerechnet Tony Chus Bruder Chow, ein renommierter Spitzenkoch, soll ihr Gerichte aus dieser Beere kochen.

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John Layman & Rob Guillory: CHEW. Bulle mit Biss! Eiskalt serviert. Cross Cult 2011. 128 Seiten. 16,80 Euro. Hier bestellen

Der Herkunft dieser in den USA angekommenen Beere geht auch Tony Chu nach. Dabei begegnet ihm die Top-Agentin des amerikanischen Landwirtschaftsministeriums Lin Sae Woo, die unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt. Logisch, dass sich Chu auch dieses Mordes annimmt. Unterstützung erhält er dabei von dem Polizeichef der Insel, Raymond Kolulu, der einem in die Jahre gekommenen Rocker gleicht.

Auch in CHEW 2, der unter dem Titel Reif für die Insel erschienen ist, mangelt es nicht an blutigen Szenen, zumal hier noch ein seltsamer Vampir sein Unwesen treibt. Zuweilen ist man als Leser durchaus der Meinung, dass das nun etwas viel des Guten ist. Geschmacksermittler, Fleischgurus, Blutsauger – kaum ein pseudoreligiöses, sektiererisches Phänomen findet hier nicht statt. Layman und Guillory bedienen sich dieser gesellschaftlichen Idiotien, weil sie perfekt in diese düstere und gewalttätige Scheinwelt der Doppelmoral passen, die ebenso die Nahrungsmittelindustrie wie auch die orwellschen Strukturen so manches Obrigkeitsstaats unter den Vorzeichen der internationalen Paranoia prägen.

CHEW ist nichts für schwache Gemüter. Die Serie fordert ebenso ein politisch-kritisches Bewusstsein wie auch die Fähigkeit, Ironie – auch in drastischen Strichen – zu verstehen. Daher ist diese Serie Nichts für Kinderhände, sondern eher Jugendlichen und jungen Erwachsenen ab 15 Jahren zu empfehlen. Sie enthält die typischen Elemente der Action- und Superheldencomics, hat aber durch den thematischen Anstrich durchaus einen aufklärerischen Charakter. Vielleicht erklärt sich gerade darin ihr Erfolg.

Nachtrag: Noch vor Weihnachten erscheint der dritte Band der Reihe unter dem Titel Eiskalt serviert in Deutschland. Darin treffen die einstigen Partner Mason Savoy und Tony Chu wieder aufeinander. Ein cibopathisches Duell nimmt seinen Lauf. Eines kann schon vorweg gesagt werden. Die gustatorischen Abenteuer des Tony Chu sind auch nach Teil drei noch nicht an ihrem Ende angelangt.