Noch sind nicht alle Stars und Sternchen über den roten Teppich am Potsdamer Platz in Berlin gegangen, aber bereits zur Halbzeit der Berlinale kann man feststellen, dass die Wettbewerbsbeiträge außergewöhnliche Blicke auf den Menschen werfen.
Einen außergewöhnlichen Blick auf den Menschen bietet der Beitrag Cesare Deve Morire (dt.: Cäsar muss sterben) der italienischen Brüder Paolo und Vittorio Taviani, in dem sie die Proben für ein Theaterstück zum eigentlichen Spektakel machen. Denn die Akteure sind Gefangene im Hochsicherheitstrakt der römischen Strafanstalt Rebibbia, Mafiosi, Drogendealer und Mörder. Mit ihnen wollten die Tavianis William Shakespeares Julius Cäsar aufführen, das Drama unter den Dramen, in dem Shakespeare die Verschwörung der Senatoren rund um den Cäsar-Vertrauten Brutus gegen den Imperator Romanum verarbeitet hatte. Am Anfang des Films steht ein Casting, bei dem die einzelnen Inhaftierten geradezu slapstickhaft ihre Talente vorführen. Doch in der folgenden Stunde bleibt dem Kinobesucher das Lachen im Halse stecken, denn die Dynamik, die sich bei den Proben entwickelt, ist atemberaubend. Schwerstverbrecher spielen die wohl bekannteste Verschwörung der Weltgeschichte nach und verhandeln ethische und moralische Fragen nach dem Sinn des Lebens, als hätten sie keine eigene Geschichte. Da sie diese aber haben, diese tief in ihnen steckt, rückt ihnen der literarische Stoff auf den Leib, konfrontiert sie mit ihrem Tun und stellt sie schließlich selbst infrage. Zusammenbrüche und eskalierende Konflikte führen immer wieder zum Abbruch der Proben. Mit jeder weiteren Filmminute wird deutlich, dass die Gefangenen hier ebenso viel Shakespeares wie ihr eigenes Drama aufführen. Einfühlsam und mit höchstem Respekt inszenieren die Tavianis die Gefangenen und ihre Rollen. Sie präsentieren sie nicht als monströse Verbrecher, sondern als Menschen, die sich mit ihrem Leben mehr als andere auseinandersetzen müssen. Durchaus Bärenverdächtig ist neben der Geschichte auch der kongeniale Zusammenschnitt der Szenen, der die einsamen Textübungen der Gefangenen in ihren Zellen zusammenfügt, als würde Shakespeares Text die Gefängniswände durchdringen und über den Grenzen stehen, die der Beton hier bildet.
Befremdlich ist hingegen der Blick auf die beiden Hauptakteure in Frédéric Videaus Film À moi seule (dt.: Auf mich allein gestellt), eine französische Variation der Entführungsgeschichte von Natascha Kampusch, die es aber natürlich nicht sein soll. Von diesem Korsett kann sich der Film aber nicht befreien, zu nah bewegt sich die Erzählung an dem, was man zum Fall Kampusch weiß. Gaëlle (Agathe Bonitzer) wurde als Kind von Vincent (Reda Kateb) entführt und in den Keller seines Blockhauses gesperrt. Wenn er arbeiten ist, bleibt sie eingeschlossen, kommt er nach Hause, darf sie an die Oberfläche. Eines Tages kann Gaëlle entkommen, Vincen bringt sich kurz darauf um. Der Film wechselt zwischen Perspektiven der Zeit vor und nach der Flucht Gaëlles, beobachtet das ebenso unnahbare wie tief verletzte Mädchen, das stets auf sich allein gestellt ist. Gegenüber Vincent muss es sich seine Position erkämpfen, wenngleich dieser nicht als der grausame Entführer präsentiert wird. Mit einer seltsamen, fast väterlichen Fürsorglichkeit kümmert er sich um Gaëlle, ihre Wünsche und Bedürfnisse. Nur den einen Wunsch, das Bedürfnis, frei zu sein, verwehrt er ihr. Als sie sich selbst befreit, gerät sie in die Gefangenschaft der Außenwelt, die sie nun wiederum nicht aus dieser Geschichte entlassen will. Agathe Bonitzer leiht Gaëlle ihr zerbrechliches Gesicht, hinter dem Gitter ihrer Lider toben Aggression und Revolte, die Gaëlle tief in sich trägt und ihr Überleben sichert. Dem Film Videaus gibt die erst 22-jährige Französin ausgerechnet mit ihrer Blässe einen besonderen, außergewöhnlichen Glanz.
Durchaus für angeregte Debatten sorgen die zwei deutschen Beiträge, die bislang gezeigt wurden. So wird Christian Petzolds Barbara, sein dritter Beitrag zum Berlinale-Wettbewerb (2003: Gespenster, 2005: Yella), inzwischen von den Experten- und Feuilletonjurys so einhellig als Top-Anwärter für einen Bären gehandelt, dass man schon wieder kritisch sein muss. Und auch Hans-Christian Schmids Film Was bleibt hinterließ bei seiner Premiere gestern einen guten Eindruck. Petzold erzählt in seinem Film Barbara eine Geschichte aus der ehemaligen DDR. Gewagt sei dies, schließlich komme er selbst aus Nordrhein-Westfalen, heißt es. Bei solchen Kommentaren wird klar, dass der Kritik ihr Mittel ausgeht, denn seit wann dürfen Regisseure nur inszenieren, was sie selbst erlebt haben? Grotesk. Petzold hat in seinem neuen Film die Kamera ganz auf die Ärztin Barbara (Nina Hoss) gerichtet, die, nachdem sie einen Ausreiseantrag gestellt hat, in eine Provinzklinik strafversetzt wird. Hier geht sie ihrem Job mit Sorgfalt nach, bleibt ihren Kollegen gegenüber skeptisch und verfolgt weiter ehrgeizig ihren Plan, eines Tages auszureisen. Denn im anderen Deutschland wartet ein Mann auf sie. Doch Chefarzt Andre (Ronald Zehrfeld) verwirrt sie mit seiner Aufmerksamkeit. Liebt er sie oder steht sie unter seiner Bewachung? Ist seine Zuwendung echt oder Mittel zum Zweck? Wann ist Skepsis angebracht und wo wird sie zur Paranoia, diese große Frage zieht sich durch diesen Film.
Ganz anders behandelt dieses Thema Hans-Christian Schmid (2006: Requiem, 2003: Lichter) in seinem Film Was bleibt. Mit Lars Eidinger und Corinna Harfouch wirken in seinem wie ein Kammerspiel angelegten Film zwei der besten deutschen Schauspieler mit, die mit jeweils einem Fuß im Film und im Theater stehen. An einem gemeinsamen Wochenende im Elternhaus sollen die Weichen für die Zukunft einer Familie neu gestellt werden, denn der stets geschäftige Verlegervater (Ernst Stötzner) ist in den Ruhestand gegangen und kann sich nun seiner Frau (Corinna Harfouch) und den beiden Söhnen Marko (Lars Eidmann) und Jakob (Sebastian Zimmler) widmen. Doch es kommt zum Eklat, denn das, was all die Jahre verschwiegen wurde, bricht nun zutage. Gitte ist ihrer Rolle als depressives Muttchen überdrüssig, Jakobs Zahnarztpraxis läuft nicht so wie er will und Markos Ehe steht kurz vor dem Ende. Was bleibt, wenn man sich diese Wahrheiten nicht zugemutet hat? Wie viel Familie, wie viel Vertrauen und wie viel Wissen teilt man dann noch miteinander? Und wie kommt man aus den Schleifen heraus, die einem das Leben manchmal aufzudrücken scheinen? Diese Fragen behandelt Schmid in seinem Wettbewerbsbeitrag, der aber wohl wenige Chancen auf einen Bären hat. Denn die Probleme, von denen er erzählt, sind die von Gutbetuchten und wirken angesichts der Wirklichkeit fern der Relevanz.
Ein Gegensatz dazu stellt der Beitrag der Schweizer Regisseurin Ursula Meier dar. Ihr 2008 gedrehter Spielfilm Home war 2010 für einen Oscar nominiert, nun ist sie mit L’enfant d’en haut (dt. Das Kind dort oben) erstmals zur Berlinale eingeladen. Und wenn sie hier einen Bären mitnimmt, wäre das nicht verwunderlich, denn ihr Film erzählt eine außergewöhnliche Geschichte mit metaphorischem Tiefgang. Der zwölfjährige Simon (Kacey Mottet Klein) fährt jeden Tag mit der Seilbahn in die Schweizer Berge. Dort beklaut er Touristen. Sonnenbrillen, Helme, Handschuhe, Ski – Simon ist Experte und weiß, was zu stehlen sich lohnt. Die Winterutensilien vertickt er meistbietend unten im Tal. Dort wohnt Simon mit seiner großen „Schwester“ (Léa Seydoux), um die er sich kümmern muss. Er kauft für sie ein, schleppt sie betrunken nach Hause und versorgt sie mit dem nötigsten. Nicht die Lust am Diebstahl, sondern die Armut macht Simon zum frech-dreisten Kleinganoven. Das Fürsorgeprinzip wird hier auf den Kopf gestellt. Der erst dreizehnjährige Kacey Mottet Klein, dem Meiers Kamera permanent auf den Fersen ist, ist in der Rolle dieses kindlichen Diebes eine Entdeckung dieses Festivals. Ursula Meier blickt in L’enfant d’en haut im sozialrealistischen Stil der Dardenne-Brüder hinter die Kulissen der romantischen Skigebiete und zeigt eine Welt, die man nicht sehen soll. Und die man auch nicht sieht, wenn man nicht genau hinschaut. Eine Welt, die sich in sämtlichen Bezügen in Oben und Unten teilt. Während oben die Sonne scheint, liegt das Tal im Schatten der industriellen Abgase. Während die Schönen und Reichen oben in den Bergen ihrem Vergnügen nachgehen, rackern unten im Tal all jene, die sich das nicht leisten können. Diese Welten verbinden nur die geografischen Koordinaten. Ursula Meier überträgt diese horizontale Geografie in die Vertikale, bringt sie in die Sequenz ihrer Bilder und in die Geschichte von Simon. So ermöglicht sie einen neuen Blick auf die alpine Schönheit.
[…] die italienischen Brüder Paolo und Vittorio Taviani einen Bären abräumen würden, war nicht allzu überraschend – wenngleich das deutsche Feuilleton seiner Enttäuschung ob der Vergabe des Goldenen Bären für […]
[…] hat, schon weit fortgeschritten. Der Gipsy-King des Jazz Django Reinhardt, nonchalant gespielt von Reda Kateb (Die schönen Tage von Aranjuez) ist bereits mit seiner schwangeren Frau Naguine (Beata Palya) und […]
[…] gleichnamige Verfilmung des Buches von Hans-Christian Schmid (»Was bleibt«, »Requiem«, »Lichter«) zeichnet nun konsequent diese Teenager-Perspektive nach. Im Mittelpunkt […]