Hans Weingartner erzählt in seinem neuen Film »Die Summe meiner einzelnen Teile« vom Zusammenbruch und Aufrappeln eines Mathematikers, dessen neues Lebensmodell aus unserer wirtschaftsorientierten Zeit fällt.
Hans Weingarnter lag mit seinen Kinofilmen bisher immer richtig. Kaum ein deutschsprachiger Regisseur hat ein solches Gespür für gesellschaftliche Stimmungen und Atmosphäre. Sein Filmdebüt Das weiße Rauschen, in dem er die Geschichte des schizophrenen Lukas in eindringlichen Bildern erzählt, erschien im Jahr 2002, kurz nach der politischen Agonie Ende der 1990er Jahre in Deutschland und mitten in einem Wahlkampf, in dem Sozialdemokraten nicht mehr von Christdemokraten und Liberalen zu unterscheiden waren. Die Wirklichkeit selbst war schizophren, als Das weiße Rauschen die deutschen Kinos eroberte.
Sein anschließender kapitalismuskritischer Kinofilm Die fetten Jahre sind vorbei erreichte zu einem Zeitpunkt ein Millionenpublikum, als der Neoliberalismus noch seinen weltweiten Siegeszug feierte, die globale Wirtschaft sich selbst am nächsten war und sich nicht für die Folgen ihres alle Ressourcen ergreifenden Raubbaus interessieren wollte, ein im Untergrund rumorender Widerstand gegen die wirtschaftsliberale Ausbeutung aber schon nicht mehr zu überhören war. Der Film traf in seiner Intensität und Konsequenz den Zahn der Zeit. Seine Mediensatire Free Rainer war als Kommentar zur sog. Vierten Macht zu sehen, die sich von der Politik kommentierenden Instanz immer mehr zum Politik machenden Medium entwickelt hatten. Und nach vier Jahren großer Koalition ohne Vorankommen, einer emotionalen Debatte um eine europäische Verfassung und angesichts eines nahezu unbekannten neuen Bundespräsidenten namens Horst Köhler nahm das von ihm initiierte Filmprojekt Deutschland 09 (gemeinsam mit Fatih Akin, Dominik Graf Nicolette Krebitz, Tom Tykwer u.a.) ein Land unter die Lupe, dessen Gesellschaft gerade auf der Suche nach sich selbst war.
Weingartners neuer Film Die Summer meiner einzelnen Teile feiert morgen in Berlin Premiere und startet am 2. Februar bundesweit in den Kinos. Und erneut trifft er mit seinem Film ins Mark der deutschen Gesellschaft, die sich jeden Tag etwas mehr als Müdigkeitsgesellschaft begreift und spätestens seit Byung-Chul Hans Bestseller mit eben diesem Titel sich selbst reflektiert. Der koreanischstämmige Philosoph erklärt in seiner kaum 70 Seiten dünnen Flugschrift, wie unsere tägliche Selbstausbeutung unter dem Diktat der absoluten Freiheit, alles zu können und alles zu dürfen, dazu führt, dass Burnout und Depressionen weniger individuelle als gesellschaftliche Krankheitssymptome sind.
Ein Burnout ist es auch, der die Lebenskrise des erfolgreichen Mathematikers Martin Blunt (Peter Schneider) auslöst, die ihn aus der Bahn wirft. Ein halbes Jahr begibt er sich in stationäre Behandlung. Als er aus der Klink entlassen wird, ist nichts mehr, wie es war. Sein Unternehmen will sich auf seine labile Persönlichkeit nicht mehr einlassen, seine schicke Wohnung in Berlins Mitte kann er sich nicht mehr leisten und seine Freundin (Julia Jentsch) hat inzwischen Ablenkung und Trost in anderen Armen gefunden. Martin Blunt findet sich als arbeits-, wohnungs- und kontaktloses, unter Psychopharmaka stehendes Wrack in der verregneten Hauptstadt wieder. Er zieht sich in seine ihm zugeteilte Sozialwohnung am Großstadtrand zurück und sucht Halt am billigen Fusel.
Die Zahlenreihen und Algorithmen, denen er einst den Sinn seines Daseins entlockt hat, stiften in dem Kopf des jungen Mannes nur noch Verwirrung. Mit Primzahlen versucht er, seinem Leben Struktur zu geben. Im Supermarkt greift er nur zu den Artikeln, deren Preis mit einer Primzahl in Verbindung gebracht werden kann. Häuserreihen läuft manisch er ab, immer auf der Suche nach Prim- und anderen Halt versprechenden Chiffren. Doch sein Leben bekommt er damit nicht in den Griff. Eines Morgens weckt ihn der Gerichtsvollzieher, seine Wohnung wird zwangsgeräumt und Martin Blunt steht mit einem Schlafsack und den Kleidern, die er am Leib trägt, auf der Straße. Den einst erfolgreichen Zahlenjongleur hat der eigene Zusammenbruch nicht nur aus der Bahn geworfen, sondern bis an den äußersten Rand der Gesellschaft gespült. Martin Blunt wurde von der Leistungsgesellschaft ausgespuckt, weil er ihren Anforderungen nicht mehr nachkommen konnte.
Wie Peter Schneider diesen ins Nichts geworfenen Zahlenjunkie spielt, wie er ihn manisch durch Berlin ziehen und Halt suchen lässt, ist grandios. Er verleiht ihm einen unsicheren Blick in die Welt, die ganz seiner Situation entspricht. Er ist die Entdeckung des Films.
Als Obdachloser flieht Martin Blunt er in ein Abrisshaus. Er setzt seine Tabletten ab und nach einigen Tagen begegnet er dem elfjährigen Viktor (Timur Massold), der seine am Alkohol zugrunde gegangene Mutter tot in ihrer Wohnung zurückgelassen hat. Mit Viktor kehrt etwas Konstantes in das aus den Fugen geratene Leben Blunts zurück. Gemeinsam mit ihm flieht er aus der Großstadt, die sich für die beiden schicksalhaft aneinander gebundenen Menschen nicht interessiert. Zunächst versuchen sie, bei Blunts Vater (Andreas Leupold) am Rande Berlins Obdach zu finden, doch als dieser die Klinik anruft, um seinen Sohn abholen zu lassen, fliehen beide in den angrenzenden Wald. Unter Ästen und Bauplanen überwintern sie hier. Wie sie dabei dem sicheren Erfrierungstod entkommen, bleibt eines der Geheimnisse des Films – ein Märchen der Neuzeit. Dazu passt auch, dass mit dem Frühling neue Kräfte in die Körper der beiden Verstoßenen kommen. Sie ziehen tiefer in den Wald, bauen sich dort eine feste Hütte und werden eins mit der sie umgebenden Landschaft. Für einige Wochen scheint sich Normalität und innere Harmonie in ihr Leben zu schleichen. Mit den träumerischen Bildern, die Hans Weingartner hier vom Wald als Ort des Rückzugs und der inneren Mitte präsentiert, verbeugt er sich vor dem Wald als Ort der Utopie und Heimstatt der Vertriebenen.
Einzig zur Versorgung mit Nahrungsmitteln fahren sie immer wieder in die Stadt, sammeln Pfandflaschen und versorgen sich mit dem Notwendigsten. Dabei begegnet ihnen Lena (Henrike von Kuick), eine junge Zahnarzthelferin, die am wohl strukturierten Leben in unserem Wirtschaftssystem, in dem jeder seiner Aufgabe und Funktion nachzukommen hat, ebenso zugrunde zu gehen droht, wie es dem jungen Martin Blunt widerfahren ist. Sie träumt davon, nach Portugal zu gehen und dort ein anderes, freieres Leben fernab der Leistungsstrukturen zu führen. Doch diesen Schritt wagt sie nicht. Selbst als ihr Martin erzählt, dass er genau diesen Traum mit Viktor am Rande Berlins lebe, erscheint ihr ein anderer Weg unmöglich.
Als würde er diese Sicht bestätigen wollen, entzieht Hans Weingartner seinem Protagonisten, und damit auch dem Zuschauer, diese Illusion. Als Martin in den Wald zurückkehrt, reißen Waldarbeiter gerade seine Hütte ab. Viktor ist verschwunden. Auch die Polizei kann keine Spuren von ihm finden. War der geheimnisvolle Junge nur ein Hirngespinst? Hat sich Blunt in einer Art Rückfall in etwas hineingesteigert? Sind die fehlenden Tabletten Schuld? In der Klinik soll dies geklärt werden. Doch Blunt hat andere Pläne.
Hans Weingartner stellt mit seinem aktuellen Film eine alte Frage neu: Wozu ist die Psychotherapie da? Um Menschen zu helfen oder um die gesellschaftlichen Einzelteile in einen Zustand der Funktionalität zu versetzen, die einem Wirtschaftssystem dient. Wenn es darum ginge, zu helfen, dann müsste man dem von und aus der Gesellschaft verstoßenen Martin Blunt sein alternatives Leben im Wald führen lassen. Er fällt damit aber als Wert schaffendes Individuum aus dem Wirtschaftskreislauf heraus – und dies scheint in einer Gesellschaft, in der ein jeder bis zur Selbstausbeutung seinen Beitrag zu leisten hat, nicht hinnehmbar. Diese Kritik an der Leistungsgesellschaft, die Ausdruck des zeitgenössischen liberalistischen Kapitalismus ist, wird hier nicht direkt formuliert. Sie bildet aber den großen Rahmen, der sich um diese Geschichte legt.
Am Ende von Die Summe meiner einzelnen Teile bleibt es offen, ob Martin seinen alternativen Weg gehen kann, den er sich im Kopf zurechtgelegt hat, um sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Zumindest aber hat er Lena geholfen, ihr Glück in Portugal zu versuchen. Als Zuschauer geht man dennoch mit gemischten Gefühlen aus diesem Film, sich der eigenen Rolle im System der Mühlenräder umso bewusster. Würde man selbst ausscheren, wie es Martin Blunt versucht? Und wie würde die Gesellschaft darauf reagieren? Diese Fragen kann sich dann jeder selbst stellen.
Homepage zum Film: www.summemeinerteile.de
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