Literatur, Roman

Die Logik der Assekuranz

Thomas von Steinaecker hat mit »Das Jahr in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen« einen technisch perfekten Roman geschrieben, der in der staubtrockenen Luft des Versicherungswesens, dem seine tragische Heldin entstammt, erstickt.

Renate Meißner heißt die unglückliche Heldin in Thomas von Steinaeckers neuem Roman, der zweifellos für so einige Literaturpreise geeignet ist. So kann der Autor geradezu davon ausgehen, beim Rennen um den längsten Buchtitel 2012 ganz vorn mit dabei zu sein. Und auch im Wettstreit um den kuriosesten Buchtitel kann sich Steinaecker durchaus Hoffnungen machen: Das Jahr in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen. Warum er mit seinem jüngsten Roman allerdings auf der Shortlist für den Leipziger Buchmessepreis 2012 gelandet ist, erscheint rätselhaft.

Dabei gilt der als Schriftsteller, Journalist und Regisseur vielseitig aktive Thomas von Steinaecker seit Jahren zu den Hoffnungsträgern der jungen deutschen Literatur. Mit seinem Debütroman Wallner beginnt zu fliegen kam er 2007 bis auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis und für seinen mit Comics versetzten Folgeroman Geister bekam er begeisterte Reaktionen.

Auch in seinem aktuellen Roman greift Thomas von Steinaecker auf das Zusammenspiel von Text und Bild zurück, um der Erzählung seiner tragischen Heldin den Anschein einer über die Romanseiten hinausgehenden Bedeutung anzudichten. Die Bilder sollen – wie übrigens auch so manche geschichtliche Reminiszenz – den Leser verführen, die Fiktionalität des hier Erzählten zu vergessen und das ganze ernster zu nehmen, als es tatsächlich ist. Dies ist durchaus ein kongenialer Zug, von denen Das Jahr in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen durchaus noch einige andere bereithält – und dennoch ist Steinaecker mit seinem neuen Werk gescheitert.

Darin lässt er die 42jährige Ex-Versicherungskauffrau Renate Meißner auf ihr letztes Jahr im Dienste des global agierenden CAVERE-Konzerns zurückblicken. Durchaus mit einigem Zorn, wie schon zu Beginn des Romans deutlich wird, weil sie von Frankfurt nach München versetzt wurde. »Nach oben gelobt« nennt man es im Beamtenjargon, wenn man unliebsame Kollegen und Querulanten aus der eigenen Abteilung befördert, um endlich wieder Ruhe zu haben. Bei Renate Meißner verhält sich die Angelegenheit jedoch etwas anders. Sie ist versetzt worden, weil sie als Geliebte ihres Vorgesetzten ausgedient hat.

Steinaeckers Erzählerin entführt ihre Leser in die Welt der Assekuranzen. Sie verkörpert dabei die Durchschnittlichkeit dieser Scheinwelt, die ihr Metier über den Dingen schwebend wähnt, während sich die Wirklichkeit in den Niederungen des Kaufmännischen abspielt. Permanent steht Renate Meißner unter Tabletten. Um ihre Midlife-Crisis in den Griff zu bekommen, greift sie je nach Bedarf auf Antidepressiva oder Entspannungspillen zurück. Abwechslung von diesem öden Leben bieten einzig die skurrilen Ausflüge in den künstlerisch-kreativen Untergrund Münchens, die ihre Freundin Lisa organisiert. Renate Meißner empfindet ihr Dasein als Folge eines Unfalls, bei dem noch nicht klar ist, wer die Schuld trägt und wessen Versicherung den Schaden nun zu beheben hat.

Bis das geklärt ist, gilt es jedoch, das Beste aus der Situation zu machen. Also wirft sie sich in die Arbeit und gibt ihr Bestes, um von Anfang an einen guten Eindruck zu hinterlassen. Als kurz darauf die Konzernzentrale eine Betriebsprüfung durchführen lässt um Einsparpotentiale zu finden, beginnt der Überlebenskampf.

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Thomas von Steinaecker: Das Jahr in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen. S. Fischer Verlag 2012. 399 Seiten. 19,99 Euro. Hier bestellen

Renate Meißner wäre aber nicht Renate Meißner, wenn sie damit nicht umzugehen wüsste. Ihre Welt kennt nur eine Richtung, die nach vorn. Ihr Schicksal hat sie selbst in der Hand, denn schließlich geht jedem Ereignis eine Ursache voran. Als ihr ein Großkunde einen lukrativen Auftrag in Russland vermittelt, scheint das ihre Position im Unternehmen zu stärken. Sie soll selbst nach Russland fahren, um die Auftraggeberin kennen zu lernen und den Auftrag an Land zu ziehen. Es ist ein Ausflug in eine durch und durch surreale Welt – und in die eigene Vergangenheit.

Das Motiv des Surrealen, wie es auch dem Versicherungswesen eigen ist, zieht sich durch den gesamten Roman. Selbst die Bilder, die der von Renate Meißner erzählten Geschichte den Anstrich des Realen erwecken sollen, befördern den surrealen Eindruck. Von Steinaecker verschiebt die Geschichte der Ex-Versicherungsagentin so in den Bereich der Realsatire. Dies prägt auch die Sprache des Romans. So zieht sich die versicherungstechnische Ereignis-Folge-Logik selbst durch das private Denken der Erzählerin, was sich dann folgendermaßen liest: »Ich hatte die irreversible Abfolge in Gang gesetzt, die ich vor dem Treffen zwar in Erwägung gezogen, aber dann als unwahrscheinlich verworfen hatte, ich spürte das. Lange Diskussionen inklusive wortreiche Einmischung meiner Schwägerinnen in Dinge, die sie eigentlich nichts angingen, plus sehr emotionale Szenen (Tränen und Wut angesichts der schockierenden Enthüllungen) plus weitere Telefonate unter der Woche plus nachhaltige Verstimmung bei allen Beteiligten wegen Großmutters Unfall –– Scheidung der Eltern –– Tod der Mutter.«

Auch die profanen Konfliktbewältigungsstrategien des gemeinen Großraumbürobürgers finden ihren Niederschlag in Steinaeckers Roman: »Gehen Sie in sich und ergreifen Sie in einer Stresssituation den erstbesten Gedanken, der nichts mit ihrem Stress zu tun hat. Stellen Sie sich auf ihn. Sie lachen, das geht. Surfen Sie auf ihm, wie auf einer guten Welle.«

Man mag diesen Transfer einer Lebenswelt in die Sprache gelungen finden oder nicht. Fakt ist jedoch, dass Passagen wie die eben zitierten die piefige Welt der Renate Meißner umreißen, von der sie im Roman erzählt. Es ist die zu warm gefönte Welt, die wir aus der Werbung mit dem allseits lächelnden Herrn Kaiser kennen. Dreißig Sekunden Werbung sind ausreichend, um von dieser Welt genug zu wissen. Steinecker mutet seinen Lesern fast 400 Seiten zu. Auch so manch gewitzter Winkelzug eines Thomas von Steinaecker hebt diese langatmige Erzählung nicht in die Sphäre des Attraktiven. Sein technisch gelungener Roman kann über die sich ausbreitende Langeweile des öden Universums der Assekuranzen nicht hinwegtäuschen.