Literatur, Roman

Im dunklen Delta des 20. Jahrhunderts

Der Ungar Péter Nádas lässt in seinen »Parallelgeschichten« die geschichtenbeladenen Ströme des zwanzigsten Jahrhunderts zusammenfließen. Ein Roman, den man Europa nennen möchte.

Bei mit einem Preis für die Übersetzung ausgezeichneten Titeln stellt sich immer wieder die nur schwer zu beantwortende Frage, welche Leistung zuvorderst honoriert wurde. Denn neben der Qualität der Übersetzung steht oftmals auch der Umfang der geleisteten Arbeit.

Péter Nádas: Parallelgeschichten. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt 2012. 1.724 Seiten. 39,95 Euro (TB: 19,99 Euro). Hier bestellen

Bei Christina Viragh wurde zweifelsohne auch die Chuzpe gewürdigt, sich von den über 1.500 Seiten der ungarischen Originalausgabe von Péter Nádas’ Parallelgeschichten nicht abschrecken zu lassen. Acht Jahre nach der Publikation in Ungarn liegt Péter Nádas’ Jahrhundertepos endlich in deutscher Übersetzung vor. 18 Jahre lang hat Nádas an diesem mehrdimensionalen, vielstimmigen und hochkomplexen Werk gearbeitet, in dem die Geschichte einer ungarischen Familie mit den europäischen Erzählungen stromesgleich in einem Delta zusammenlaufen, jedoch ohne sich in das Meer einer in sich geschlossenen Erzählung zu ergießen. Es fließen in diese literarische Flussmündung viele Ströme, die erotische, philosophische, gesellschaftspolitische, kriminalistische Geschichten mit sich führen.

Die Struktur des Textes, der auf drei Bücher und 39 Kapitel verteilt ist, ermöglicht es kaum, in diesem Wirrwarr an Erzählungen und Geschichten Kohärenzen ausfindig zu machen, die als haltgebender Erzählstrang dienen könnten. Als würde dieses Erzählen von Parallelgeschichten Übersetzer und Leser nicht schon genug fordern, werden sie auch noch aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, darunter auch aus der des Autoren-Alter-Egos Kristof. Es gehört zur außergewöhnlichen Übersetzungsleistung von Christina Viragh, dass ihre Übertragung diesen Stimmen nicht nur Authentizität verleiht, sondern durch ihre klare Zuordnung auch Orientierung in diesem Irrgarten des Erzählens bietet.

Daniel Graf, Delf Schmidt: Péter Nádas lesen. Rowohlt Verlag 2012. 240 Seiten. 16,95 Euro. Hier bestellen

Irgendwie sucht jeder Protagonist in diesem Werk – und es sind derer Unzählige – eine verlorengegangene Welt, wenn nicht sogar eine vorübergegangene Zeit. Erkennt man dies, weiß man, an welchen Autor Nádas hier anschließt. Nádas schafft in seinem Großwerk ein in seinem Anspruch surreal anmutendes, Proust’sches Universum, nur dass er dieses ins 20. Jahrhundert und darin dessen Chaos einziehen lässt. Dieses Chaos prägt auch die Parallelgeschichten, aus denen Nádas ein mehrstöckiges Haus mit doppelten Böden und falschen Wänden, mit in die Leere führenden Türen und neue Räume erschließenden Fluren, mit hellen Zimmern und dunklen Verließen entworfen hat.

Christina Viragh ist in sechsjähriger Arbeit das Unmögliche gelungen. Sie hat dieses surreale Gebäude unter Beachtung der deutschen Bauverordnung nachgebaut und die dabei Faszination des Originals bewahrt. 

Unterstützung beim faszinierenden Herumirren zwischen den 1.724 pergamentdünnen Seiten, auf die dieses Haus gebaut ist, bietet übrigens der zeitgleich erschienene Begleitband Péter Nádas lesen. Bilder und Texte zu den Parallelgeschichten. Wer diese knapp 2.000 Seiten Nádas-Literatur erobert und bewältigt hat, ist entkräftet und beglückt zugleich.