Film

63. Berlinale: Die Verhandlung des Menschlichen im Kinosaal

Neben Stars und Sternchen bieten die diesjährigen Internationalen Filmfestspiele Berlin vor allem spannende Beiträge, die den Menschen unter dem Eindruck der internationalen Finanzkrise in den Blick nehmen. Außerdem verneigt sich die Berlinale vor dem französischen Dokumentaristen Claude Lanzmann und zeigt sein bis heute einmaliges, neuneinhalbstündiges Erinnerungswerk »Shoah« aus dem Jahr 1985 in einer restaurierten Fassung.

»Jetzt sehen wir die Kollateralschäden auf die Finanzkatastrophe in den verschiedenen Gesellschaften«, sagte Berlinale-Direktor Dieter Kosslick auf der gestrigen Pressekonferenz in Berlin, bei der er das Programm der 63. Internationalen Filmfestspiele Berlin vorstellte. Anschaulich werden diese Begleitschäden am besten an Einzelschicksalen, wenn die Kamera das Individuum in den Fokus rückt. Wenn Menschen mit der sie umgebenden Wirklichkeit konfrontiert werden und Kino ihren täglichen Kampf um die eigene Würde – auch in widrigen Umständen – zeigt. Wenn Kino gewohnte Perspektiven zerschlägt und neue Panoramen liefert. Entsprechend darf man in diesem Jahr auf die insgesamt 24 Filme im Wettbewerbsprogramm gespannt sein, von denen 19 um die Bären konkurrieren.

Gleich zwei Beiträge beschäftigen sich mit dem hochaktuellen Phänomen des Frackings, der Landnahme. In Gus Van Sants Promised Land (unter anderem mit Matt Damon) werden zwei Geschäftsmänner begleitet, die für ihr Gas-Unternehmen skrupellos Ländereien aufkaufen. Boris Khlebnikov macht in A long and happy life deutlich, dass die Situation in Russland nicht viel besser ist, indem sein Protagonist erleben muss, wie seine Kolchose für eine kapitalistische Unternehmung aufgelöst wird.

Die beiden deutschen Beiträge Gold (von Thomas Arslan, u.a. mit Nina Hoss) und Layla Fourie (von Pia Marais, u.a. mit August Diehl) sowie Elle s’en va (von Emmanuelle Bercot, u.a. mit Catherine Deneuve) stellen jeweils starke Frauen in den Mittelpunkt. Arslan wirft dabei seinen Blick zurück in die deutsch-amerikanische Geschichte und porträtiert das Schicksal einer Auswandererfamilie. Pia Marais geht mit einem Südafrikathriller an den Start, in der ihre Hauptperson, eine alleinerziehende Mutter, in den Strudel der Ereignisse gerät und unter die Räder zu geraten droht. Emmanuelle Bercot dreht die typische Konstellation, der Mann geht Zigaretten holen und kommt nicht wieder, um. In seinem Film macht sich Catherine Deneuve auf einen ungewissen Weg.

Epizoda u zivotu beraca zeljeza | An Episode in the Life of an Iron Picker | © Danis Tanović
Epizoda u zivotu beraca zeljeza | An Episode in the Life of an Iron Picker | © Danis Tanović

In La Religieuse (von Guillome Nicloux, u.a. mit Isabell Huppert) und Camille Claudel 1915 (von Bruno Dumont, mit Juliette Binoche und Jean-Luc Vincent) geht es um Isolation, um das ab- und weggeschlossen sein. Dabei führt der Franzose Guillome Nicloux den Zuschauer unglaublich nah an eine Nonne und ihre Gedanken heran. Die Funktionalitäten der »Zwangsjacke« Religion werden in seinem Drama vor Augen geführt. Bruno Dumont hat das Lebensende der französischen Bildhauerin und Malerin Camille Claudel verfilmt, die von ihrer Familie gegen ihren Willen in eine Psychiatrie eingewiesen wurde.

Isoliert wurden auch die beiden iranischen Filmemacher Jafar Panahi und Kamboziya Partovi, die das zwanzigjährige Berufsverbot, dass das iranische Regime gegen Panahi wegen dessen Sympathie für die politische Opposition verhängt hat, ignorierten und nun mit ihrem Beitrag Pardé an den Start gehen.

Mit Spannung zu erwarten ist auch das Roma-Drama An Episode in the Life of an Iron Picker von Oscar-Preisträger Danis Tanovic, vor allem, nachdem im vergangenen Jahr Bence Fliegaufs Spielfilm Csak a szél begeisterte Kritiken sowie den Friedensfilmpreis für seinen »humanistischen, sozialpolitischen sowie friedensfördernden Hintergrund« geerntet hat. Die Lebensverhältnisse und -situation der Roma begleitet die Berlinale also weiter. Menschlich bemerkenswert scheinen auch Emir Baigazins Uroki Garmonii über die Situation von Kindern in einer kasachischen Schule und ihr tägliches Erleben von Aggressivität und Autorität sowie Małgorzata Szumowskas W imię, in dem ein homosexueller Priester in Polen begleitet wird.

Hohe Erwartungen werden auch an Ulrich Seidls Abschluss seiner Paradies-Trilogie PARADIES: Hoffnung gesetzt, in dem eine junge Teilnehmerin in einem Diät-Camp begleitet wird. Im ersten Teil seiner Trilogie PARADIES: Liebe, der 2012 in Cannes lief und derzeit in den deutschen Kinos zu sehen ist, begleitet Seidls Kamera eine österreichische Sextouristin nüchtern aber schonungslos in Kenia. Der zweite Teil PARADIES: Glaube, der bei den letzten Filmfestspielen in Venedig lief und viel diskutiert wurde, beobachtet Seidl durch seine Kamera eine extrem gläubige Krankenschwester. PARADIES: Glaube kommt am 21. März in die deutschen Kinos.

Paradies: Hoffnung | © Ulrich Seidl Film Produktion GmbH
Paradies: Hoffnung | © Ulrich Seidl Film Produktion GmbH

Cineasten dürfen sich im Wettbewerb außerdem über Steven Soderbergs Psychothriller Side Effects (u.a. mit Jude Law und Cathrine Zeta-Jones), David Gordon Greens Tragik-Komödie Prince Avalanche, Cálin Peter Netzers Familiendrama Poziţia Copilului, Hong Sangsoos koreanisches Drama Nugu-ui Ttal-do Anin Haewon, Fredrik Bonds actionreiche Liebeskomödie The Necessary Death of Charlie Countryman, auf Sebastián Leilos chileanisches Drama um die verlorene Gloria sowie auf Denis Côtés dynamisches Experiment Vic+Flo ont vu un ours freuen.

Über die Vergabe des Goldenen und der Silbernen Bären entscheidet die Jury um den chinesischen Regisseur Wong Kar Wai, der in diesem Jahr der Jury vorsteht. Ihm zur Seite stehen der deutsche Regisseur Andreas Dresen (Halt auf freier Strecke), der dänischen Regisseurin Susanne Bier, der US-amerikanischen Kamerafrau Ellen Kuras, der iranischen Filmemacherin Shirin Neshat, dem US-amerikanerischen Regisseur Tim Robbins und der jungen griechischen Filmemacherin Athina Rachel Tsangari.

Den Goldenen Ehrenbären erhält in diesem Jahr mit dem Franzosen Claude Lanzmann erstmals in der Berlinale-Geschichte ein Dokumentarfilmer. Lanzmanns epochales Erinnerungswerk Shoah (vgl. Titelbild), bis heute einmalig in seiner eindringlichen Schilderung des nationalsozialistischen Horrors der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden, wird, wie auch seine weiteren Dokumentationen, im Rahmen der Berlinale noch einmal in einer restaurierten und digitalisierten Fassung gezeigt. Ein Muss für all jene, die Lanzmanns neuneinhalbstündigen Dokumentarfilm über den Genozid an den europäischen Juden noch nicht kennen, sich nun mit diesem Film auseinanderzusetzen. Geehrt mit der Berlinale-Kamera 2013 werden in diesem Jahr Isabella Rossellini und Rosa von Praunheim.

Sei noch hingewiesen auf die diesjährige Sonderreihe NATIVe – A journey into Indigenous Cinema, die ab diesem Jahr die Schicksale und Lebensverhältnisse indigener Völker filmisch in den Mittelpunkt stellen soll, sowie auf die diesjährige Retrospektive The Weimar Touch, bei der der Einfluss des Weimarer Kinos auf die internationale Filmbildung in den Blick genommen wird, unter anderem mit Filmen von Fritz Lang, Max Ophüls, Billy Wilder, Ernst Lubitsch und Orson Welles. Ab dem 7. Februar heißt es in Berlin erneut für elf Tage: Film ab, Film läuft.

6 Kommentare

  1. […] »Gloria«, Paulina Garcia, legt eine der eindrucksvollsten schauspielerischen Leistungen auf der diesjährigen Berlinale hin. Der Film ist eine laute Ode an das Leben, in der die leisen Töne nicht minder beeindruckend […]

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