Gesellschaft, Sachbuch

Reportage aus den Schößen der arabischen Welt

Die muslimische Journalistin Shereen El Feki beschreibt in ihrem Buch »Sex und die Zitadelle« eine Welt, die es offiziell nicht gibt. Sie beschreibt fakten- und facettenreich das tabuisierte Liebesleben der Muslime und die »Sexualnot« in der arabischen Welt.

In der arabischen Welt sei Sex das Gegenteil von Fußball, schreibt die britisch-ägyptische Immunologin und Journalistin Shereen El Feki zu Beginn ihres Buches Sex und die Zitadelle. »Jeder spricht über Fußball, aber kaum einer spielt Fußball. Sex dagegen hat jeder, aber niemand will darüber sprechen.«

Neben Politik und Religion gehört Sex zu den großen Tabus, die man in der arabischen Welt besser nicht berührt. Nach der Lektüre von Shereen El Fekis beeindruckendem Kompendium zum »Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt« – so der Untertitel ihres Buches – weiß man auch, warum das so ist. Weil diese drei Tabus in der arabischen Welt in einem engen Verhältnis stehen. Über das eine zu sprechen, heißt an den anderen beiden zu rühren. Der Britin ist es dennoch gelungen, zahlreiche Menschen dazu zu bringen, im geschützten Raum mit ihr über das eigene Intimleben in der konservativ-patriarchalischen Umgebung Arabiens zu sprechen. Schon deshalb ist diese Reportage aus den Schößen der islamischen Welt bereits jetzt eine der wichtigsten und erhellendsten Arbeiten zu Vorgeschichte und Folgen der arabischen Aufstände.

Shereen El Feki war bis Ende 2012 stellvertretende Vorsitzende der von den Vereinten Nationen eingesetzten Global Commission on HIV and the Law. Fünf Jahre lang ist sie durch die arabische Welt gereist, um die unzähligen Stimmen einzufangen, die in ihr faktenreiches Buch eingeflossen sind. Dass sie dabei die Rolle der westlichen Sexpertin ebenso verkörpert wie die der gläubigen Muslima, hat ihr dabei nur geholfen.

In Sachen Sexualität könnten westliche und arabische Welt kaum weiter auseinanderliegen. Dass Muslime in Liebesangelegenheiten einst deutlich freizügiger waren als Europas christliche Gesellschaften, kann man sich kaum mehr vorstellen. So wundert es nicht, dass Shereen El Feki zunächst daran erinnert, dass Einstellungen wandelbar und vorschnelle Urteile fehl am Platze sind. Gustave Flaubert etwa »fickte sich [noch im 19. Jahrhundert, A.d.A.] sozusagen nilaufwärts«, obwohl da die Hochzeit der sexuellen Freizügigkeit im arabischen Raum schon vorbei war. Die lag im goldenen Zeitalter der arabischen Hochkultur, in dem unter anderem Werke wie 1001 Nacht entstanden. Was mit der Kolonisierung und den anschließenden Diktaturen in der arabischen Welt folgte, waren die Unterdrückung sexueller Freiheiten im Namen der religiös-patriarchalen Moral und eine sprachliche Selbstzensur. Vor allem das Sprachverbot hat dazu geführt, dass unter Muslimen eine enorme Unkenntnis in sexuellen Fragen herrscht.

Wenn El Feki in ihrem Buch über des Sexualleben in der muslimischen Ehe, die sich auf dem Liebesmarkt bietenden Möglichkeiten für arabische Singles oder über die nicht-heterosexuelle Liebe in der islamischen Welt spricht, entsteht das ambivalente Bild einer nach außen gelebten Realität und einer Schattenwirklichkeit. Während das »offizielle« Intimleben den religiösen Normen des Islam entspricht, spiegelt das inoffizielle Liebesleben die im Untergrund brodelnden sexuellen Bedürfnisse, die oftmals haram, also nach islamischer Lesart verboten sind. Dazu gehören vor- und außerehelicher Geschlechtsverkehr, Masturbation, homosexuelle Liebe, bestimmte Arten der körperlichen Vereinigung, uneheliche Kinder, Verhütung und Abtreibung.

Foto: Kristof Arasim
Foto: Kristof Arasim

Die Britin mit ägyptischen Wurzeln zeigt anhand von Statistiken, Umfrageergebnissen und zahlreichen Einzelfällen, dass diese vermeintlichen Laster in der arabischen Welt enorm verbreitet sind. Es hat sich eine Parallelwelt entwickelt, in der die »verbotenen« Praktiken von einer »Patina religiöser Wohlanständigkeit« bedeckt werden. Dem vor- und außerehelichen Geschlechtsverkehr geht man mit Eheverträgen von kurzer Dauer aus dem Weg, gleichgeschlechtliche Liebe findet im Privaten statt, Analverkehr gilt als übliche Praxis bei außerehelichen Kontakten und so weiter.

Um all das zu belegen, präsentiert die britische Sexologin nicht nur die Ergebnisse zahlreicher Statistiken und Erhebungen, sondern sie nimmt die Leser mit auf ihre Reise durch die arabische Welt. In den vergangenen Jahren sprach sie mit religiösen und politischen Führern, fortschrittlichen Ärzten und erfahrenen Sozialarbeitern, emanzipatorischen Aktivisten und Menschenrechtsgruppen. Einen besonderen Schwerpunkt bilden dabei die Zu- und Umstände in Ägypten, die sie exemplarisch heranzieht.

Besonders lesenswert sind die Passagen, in denen sie schildert, was ihr die ganz normalen Menschen über ihr Intimleben verrieten. Mit diesen Ausflügen in die arabische Normalität macht sie die Bandbreite der Sexualität in den muslimischen Gesellschaften deutlich. Neben heiteren Passagen – etwa über die Homepartys ihrer ägyptischen Freundinnen, bei denen »summende Clit-Bunnies mit rotierenden Schaftperlen« und andere Sextoys unter die Lupe genommen werden – stehen viele bedrückende Abschnitte – wie zum Beispiel die traumatischen Erlebnisse ägyptischer Mädchen, die oft für wenige Tage in eine vertraglich geschlossene »Sommerfrischler-Ehe« mit alten Saudis gezwungen werden, um die Familienkasse aufzubessern. Hier wird vor allem deutlich, dass die islamischen Gesellschaften der individuellen »Sexualnot« aus dem Weg gehen, indem sie eine neue, strukturell-gesellschaftliche Not schaffen: die Leidtragenden in der Schattenwelt der Libido sind vor allem Kinder und Frauen.

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Shereen El Feki: Sex und die Zitadelle. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Hanser Berlin 2013. 416 Seiten. 24,90 Euro.Hier bestellen

»Heuchelei« nennt Shereen El Feki das Auseinanderfallen des Intimlebens in ein öffentliches Auftreten und eine private Wirklichkeit. Die Ursachen dafür sind in der weit verbreiteten Armut und den konservativen Vorurteilen in den islamischen Gesellschaften zu suchen. Vor allem aber tragen die weitgehend unhinterfragten patriarchalen Strukturen zum reaktionären Status Quo bei. Wenn die Situation von Kindern, Frauen und nicht-heterosexuell lebenden Menschen in den muslimischen Staaten und damit die Vielfalt der selbstbestimmten Sexualität gestärkt werden soll, braucht es Bildungs- und Sozialprogramme, gesellschaftlichen Dialog, kreatives Denken und Toleranz. Die eigentliche Herausforderung besteht für El Feki darin, den dafür notwendigen Mentalitätswandel voranzutreiben. Aber »solange die Religion weiterhin eine zentrale Rolle im Leben der Menschen spielt und Gott als die höchste Vaterfigur das Sagen hat, dürfte das Patriarchat kaum wanken«, schreibt sie in ihrem Buch.

Am Ende stellt El Feki fest, dass Sexualität eher einer Zitadelle ähnele, »deren Außenmauer jeden erdenklichen Angriff auf die Bastion heterosexuelle Ehe und Familie abwehrt.« Die Außenmauern dieser Festung sind aber schon derart porös, dass es nur eine Frage der Zeit scheint, bis sie einstürzen. Wenn das Triumvirat der Tabuthemen Politik, Religion und Sexualität zusammenbricht, ist der Zeitpunkt der Demokratie gekommen.

Bis dahin scheint es aber noch ein weiter Weg zu sein, auch nach den arabischen Aufständen. Shereen El-Feki nimmt an, dass die jungen Ägypter in den kommenden Jahren die Erfahrung machen würden, »dass es schwieriger ist, von zu Hause auszuziehen, als Mubarak aus dem Weg zu räumen.« Sie bezweifelt, dass es bald zu einem »grundlegenden Wandel des Sexuallebens« im arabischen Raum kommen wird. Auf lange Sicht aber hat sie Hoffnung, dass der Arabische Frühling eine »stärkere Demokratisierung persönlicher Beziehungen befördern« und damit nicht nur den Wandel der Intimität, sondern den der arabischen Gesellschaften vorantreiben wird.