InSzeniert

Mal Scharlatan, mal Held, mal Sündenbock

Im Rahmen des interkulturellen Theaterprojekts »Clash« am Deutschen Theater im Berlin hielten Nachwuchsschauspieler der Gesellschaft ihren Spiegel vor und der inzwischen am Maxim Gorki Theater reüssierende Regisseur Nurkan Erpulat feierte einen seiner ersten richtig großen Erfolge.

Wie konnte es eigentlich dazu kommen, dass hierzulande die Panik regiert und die Vernunft ins Hintertreffen gerät? Ob beim Thema Terrorismus, Zuwanderung, Kulturdebatten, Finanzmarkt, Kriminalität – die Angstmacher und Alarmschläger haben den Diskurs im Griff. Bestes Beispiel dafür war der unsägliche Verkaufserfolg von Thilo Sarrazins Abschaff-Pamphlet. Statt zu informieren, setzte Sarrazin auf die German Angst vor Überfremdung. Die anschließende Debatte konnte die vielen Schläge, die der ehemalige Berliner Finanzsenator gegen Migranten in Deutschland ausgeteilt hat, nicht umfassend heilen.

Das Junge Deutsche Theater schlug 2011 zurück. Das Theaterprojekt Clash war der Kinnhaken und die gerade Linke, die durch die Abwehr der Matusseks, Sarrazins und Broders dieser Republik dringt. Denn die sechzehn jungen muslimischen, christlichen und agnostischen Berliner Schauspieler, die das Stück gestalteten, führten dem Publikum in einer dynamischen Übertragung die perfide Logik dieser Panikmacher vor Augen. Am Anfang stand die Frage: Wie konnte es eigentlich dazu kommen?

In Clash wurde die Geschichte einer Zivilisation erzählt, die im Zuge einer allzu engagierten Kulturdebatte zerfällt. Der Frage nach dem Ursprung folgten Sätze wie »Aber wenn die sich nicht integrieren, dann haben wir ein Problem.« Oder: »Dänen sollen auch in 100 Jahren als Dänen unter Dänen, Deutsche als Deutsche unter Deutschen leben können.« Und: »Warum sollte uns das Klima in 500 Jahren interessieren, wenn das Gesellschaftsprogramm auf unsere Abschaffung hinausläuft?«

Diese schmetterten sich die jugendlichen Protagonisten zu Beginn in einem Klassenraum an den Kopf. Die Situation in dem Stück eskaliert und eine Gruppe junger Menschen beschließt, den Planeten zu verlassen, denn nichts läuft in ihrer Welt, wie sie es sich vorstellen. Ihr Raumschiff havariert und sie vollführen eine Bruchlandung auf einem von Affen regierten Planeten. Wer jetzt an Schaffners Planet der Affen-Verfilmung denkt, liegt völlig richtig. Zwar gibt es auch einige Exemplare der Spezies Mensch, doch diese Vorzeigeexemplare des Großstadtprekariats in bunten Jogginganzügen sind im festen Griff der Primaten.

Doch wie konnte es zur Übernahme der Affen kommen? »Das Buch« hat es ihnen ermöglicht, die Macht an sich zu reißen. »Wir haben jeden Absatz gelesen«, erklären sie den entgeisterten Rückkehrern, denen sie Sarrazins Deutschland schafft sich ab unter die Nase halten. Darin hätte doch schließlich gestanden, wie sie über die »Waffe der Demografie« die Gesellschaft übernehmen könnten. Nichts anderes hätten sie gemacht. Langsam dämmert es den abgestürzten Erdbewohnern, dass ihr Ausflug ins All nichts weiter als eine Zeitreise war und sie auf ihren Heimatplaneten zurückgefallen sind.

Wer bis zu diesem Punkt die Anspielungen auf den Islam als Leitreligion in dieser neuen Gesellschaft übersehen hat, dem fallen jetzt die Schuppen von den Augen. Nicht Primaten, sondern die muslimischen Migranten haben den Planeten Erde übernommen. Vom Minarett ruft der Muezzin regelmäßig zum Gebet und die unterdrückten und Gehirngewaschenen Deutschen reinigen die Landschaft von Hammelknochen und anderen Überresten. Und über all dem schwebt die Figur des Thilo Sarrazin. Eine Puppe des Panikmachers Nummer Eins blickt auf die Welt, die er an die Wand gemalt hat. Eine Welt mit einem zu viel an Gewalt und einem zu wenig an Toleranz.

Regisseur Nurkan Erpulat arbeitete bei der Inszenierung mit Berliner Jugendlichen, deren Leidenschaft das Schauspiel ist. Ihre biografischen Wegmarken und Erfahrungen, ihre Identitäten und die Klischees, die ihnen immer wieder entgegengehalten werden, fanden sich in den Texten und Rollen wieder, die das Thema über das Mittel der Ironie drehten und wendeten, bis selbst der Letzte verstanden haben musste, das hier die Kulturangst der Mehrheitsdeutschen in der Kritik stand. Unter den Brettern, die die Welt bedeuten, bebte eine äußerst lebendige Wut, die sich anhaltend auf das dynamische Spiel der Protagonisten übertrug und in Sätzen wie »Wir können machen, was wir wollen. Mal sind wir Scharlatan, mal Held, mal Sündenbock« ihren Ausdruck fand.

Dem jungen Ensemble gelang es auf faszinierende Weise, das Publikum in sein Stück einzubinden. Die Grenzen zwischen Theater und Realität verschwammen permanent zu einer Gesellschaftskritik, die vor dem Publikum nicht halt macht. Als einer der Protagonisten in seiner Rolle als Türke zum aggressiven Sprechgesang ansetzte und die ob dieser Vorstadtrevolution begeisterten Zuschauer zum Mitklatschen brachte, unterbrach er seinen Rap abrupt. Er warf dem entsetzten Publikum verachtend vor, dass sein Verhalten nun wohl ihrem Bild eines »Vorbildkanaken und Gewalttürken« entsprechen würde. Ein Türke auf der Bühne, der müsse schließlich »richtig fies und gemein rappen, nicht wahr?«, lockt er sein Auditorium, nur um ihm sogleich entgegenzubrüllen: »Ihr seht mich nur, wenn ich Klischees bediene!« Aussagen wie diese hallten immer wieder in den Saal der Kammerspiele am Deutschen Theater und blieben unwidersprochen wie Mahnmale stehen. Und Schlag auf Schlag folgten weitere dieser entlarvenden Szenen, bis dem Zuschauer schwindlig wurde.

Mit Clash wollte Nurkan Erpulat Lärm machen, Aufsehen erregen, den stupiden Diskussionen um Integration und Fundamentalismus spektakulär ein »Halt!« entgegensetzen. Die Gesangs- und Sprechleistungen der Aktiven waren dabei nicht immer perfekt, aber authentisch. Die jungen Protagonisten flüsterten, sangen, schrieen, tanzten, rannten, krochen und sprangen durch die festgefügten Bilder unserer Gegenwart und zerstörten sie – auch aufgrund der eigenen Erfahrungen – von innen. Die Stile flogen dabei so durcheinander, wie die Themen. So wurde auch die zu entlarvende Debatte imitiert, in der alles in einen Topf geschmissen und umgerührt wird, bis ein Kulturbild entsteht, das es pauschal zu kritisieren gilt.

Am Anfang des fünfmonatigen Theaterprojekts Clash stand eine intensive Debatte der 16 Teilnehmer über die Zukunft Deutschlands und der Welt sowie über Fragen der persönlichen Identität. Welche Rolle spielt Religiosität und kulturelle Zugehörigkeit? Nur eine von vielen Fragen, die angeheizt von der Sarrazin-Debatte eine prominente Rolle erhielt. Ist der Satz »Ich bin Muslim. – Ich bin Christ. – Ich bin Atheist« für Jugendliche überhaupt noch richtig und wichtig? Und will man sich, gerade als junger Mensch, heute noch darauf reduzieren lassen? Bei einem der offenen Workshops zu dem Stück, in denen man den Annäherungsprozess der Schauspieler aneinander und an ihre jeweiligen Lebenswege selbst entdecken kann, wurde die Frage beantwortet. »Die Rückkehr der Religion ist ein Thema des Feuilletons. Bei jungen Leuten spielt das keine Rolle«, fasste die Leiterein des Jungen DT Barbara Kantel ihre Erfahrungen in dem Projekt zusammen. Dies wird auch in Clash deutlich. Heißt das aber, die Gruppe ist nichts, das Individuum alles? Nein, ganz so ist es nicht. Aber dass das Individuum keineswegs immer das ist, was die Gruppe in ihm sehen will, dies ist durchaus so.

So verwunderte es nicht, dass am Ende Meister S., dessen pauschale Werturteile in die Irre geführt haben, nur noch schief in seinem gestürzten Thron hing. Nirgendwo wurden die Thesen der Integrationsapostel derart entwaffnend auseinandergenommen, wie in Erpulats neuestem Geniestreich. Clash verband auf hohem Niveau Trash und Politsatire, ernstzunehmende Gesellschaftskritik und wahnwitzige Zukunftsvision.