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Verschwunden in Argentinien

Das argentinische Militär führt Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Pablo Poznan gerät in die Fänge des Regimes. Eine verzweifelte Suche beginnt, die greifbar den Horror des Gewaltregimes enthüllt und nebenbei eine Satire auf das jüdische Selbstbild entwirft. Nathan Englander legt mit »Das Ministerium für besondere Fälle« ein Debüt vor, das unter die Haut geht.

Was lässt ein Mensch zurück, wenn er einfach verschwindet, wie vom Fußboden verschluckt scheint, seine Existenz aufgelöst wird? Was machen die Hinterbliebenen mit ihren Gefühlen zu der verschollenen Person, den einstmals gefühlten und den greifbar gegenwärtigen? Diesen Fragen spürt der junge amerikanische Autor Nathan Englander in seinem Debütroman Das Ministerium für besondere Fälle nach. Hinter dem Titel dieses Buches verbirgt sich die Geschichte der jüdischen Familie Poznan in der Zeit der argentinischen Militärdiktatur 1976. Es ist aber auch die Geschichte einer gescheiterten Vater-Sohn-Beziehung, die keine zweite Chance mehr bekommen wird, die Erzählung einer zugrunde gehenden Ehe und eine Parabel auf die Frage nach der Bedeutung und Tragweite jüdischer Identität.

Das Verhältnis zwischen Kaddisch Poznan und seinem Sohn Pablo ist endgültig zerrüttet, als dieser vor den Augen seines Vaters von argentinischen Militärs festgenommen wird. Zunächst führt Kaddisch die Festnahme auf das rebellische Verhalten seines Sohnes zurück – man kann es schließlich nicht durchgehen lassen, wenn junge Erwachsene Marihuana rauchen und das linke Gedankengut der 68er pflegen. Doch als er sich mit seiner Frau auf die Suche nach dem Sohn macht, muss er feststellen, dass er in keiner der umliegenden Polizeistellen angekommen ist. Pablo, wie vom Erdboden verschluckt, ist Opfer der politischen Umbrüche, wie einer seiner Freunde dem Vater berichten wird: »Wir sind Verschwörungstheoretiker, die ihrer Verschwörung beraubt wurden. Zu befürchten, dass das passieren würde, war unser größtes Verbrechen.«

Die Poznans begeben sich zum Ministerium für besondere Fälle, einen massiven und Menschen abweisenden Betonklotz im Herzen von Buenos Aires. Es ist die Anlaufstelle für all jene verzweifelten Familien, die auf der Suche nach Verwandten und Freunden sind. Doch Hilfe findet man dort nicht. »Das [Ministerium] war schon vor dem Putsch schlimm genug. Seitdem ist es das Ministerium der letzten Instanz. Das ist eine bürokratische Müllkippe, ein Irrenhaus für diejenigen, die keinerlei Rechtsansprüche haben.« Statt Hilfe zu geben, werden die Beamten in dem Funktionsbau selbst zur Bedrohung – auch für die Poznans. Ihnen wird Unterstellung vorgeworfen, denn den Behörden liege weder ein Haftbefehl für einen Jungen namens Pablo Poznan vor, noch hätten die Eltern einen Beleg für seine Inhaftierung. Vielmehr müssen sich die Eltern anhören, dass sie erzieherisch versagt hätten und sich ihr »Söhnchen« wohl klammheimlich abgesetzt habe. Doch daran glauben beide nicht, Pablo ist von den argentinischen Militärs entführt worden, so ihre feste Überzeugung. Das Ministerium ist die architektonische Verkörperung der argentinischen Gewaltdiktatur: »Ganze Familien werden in ein Vakuum gesaugt und kehren nie wieder zurück. Mir wurde gesagt, die gehen in dieses Ministerium und kommen nie wieder heraus.« Das Ministerium für besondere Fälle ist daher auch das kafkaeske Dokument einer verzweifelten Suche nach dem verlorenen Sohn, an der schließlich die Ehe der Poznans scheitern wird.

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Nathan Englander: Das Ministerium für besondere Fälle. Aus dem Amerikanischen von Michael Mundhenk. Luchterhand Literaturverlag 2008. 445 Seiten. 19,95 Euro. Hier bestellen

Nathan Englander ist erst 37 Jahr alt, erzählt seine Geschichte aber mit der Weisheit eines Alten. Dieses Buch ist eine Explosion, ein Kraftakt tiefer Menschlichkeit. Der Roman packt den Leser geradezu am Kragen und lässt ihn bis zur letzten Seite nicht mehr los. Englander gelingt es, die abgrundtiefe Menschenverachtung und Lebensfeindlichkeit einer Diktatur zu verdeutlichen, ohne detailliert auf die Grausamkeiten des argentinischen Gewaltregimes eingehen zu müssen. Er benötigt nicht die Perspektive der Opfer, den Schmerz und das Leid, die Isolation, die Todsangst und den letzten Atemzug. Nein, der Leser muss die Unwissenheit der Eltern selbst erleiden, ist keinen Deut klüger als sie. So überträgt er die immer noch vorherrschende Unkenntnis über das Schicksal der etwa 30.000 »Verschwundenen«, Opfer des schmutzigen Krieges der argentinischen Militärs gegen die eigene Bevölkerung in seine Erzählung. Die Realität wird zur Fiktion und umgekehrt. Englanders Erzählung lebt allein von der verzweifelten Liebe der Eltern zu ihrem verschwundenen Sohn, mit der er demonstrativ etwas allzu Menschliches dem barbarischen Unrechtsregime Argentiniens entgegensetzt.

Knapp zehn Jahre hat das Schreiben des Romans gedauert, vielleicht auch, weil die Last des Erfolges für seine 1999 unter dem Titel For the Relief of Unbearable Urges veröffentlichten Erzählungen zu schwer auf seinen Schultern lag. Die grotesk-witzigen Reflektionen über den jüdischen Alltag, die jetzt neu aufgelegt unter dem Titel Zur Linderung unerträglichen Verlangens erschienen sind, machten ihn 1999 auf der Stelle berühmt. Mehrere Stipendien und Buchpreise, darunter den PEN/Malamud-Preis (den u.a. auch Saul Bellow und John Updike in den 80ern sowie Joyce Carol Oates oder T.C. Boyle in den 90ern gewannen), machten ihn laut New Yorker zu einem der »20 bedeutendsten Autoren für das 21. Jahrhundert«. Und auch jetzt überschlagen sich die amerikanischen Kritiker. Er wird mit Philip Roth oder Bernard Malamud verglichen, die New York Times schrieb gar von der Wiederauferstehung Isaac B. Singers unter dem Namen Nathan Englander.

In Das Ministerium für besondere Fälle greift Engländer sarkastisch die identitären Fragen seiner Kurzgeschichten auf, die alle von einer gewissen Hilflosigkeit der Protagonisten gegenüber ihrer jüdischen Identität erzählen. Ebenso verzweifelt leidet Kaddisch, dessen Name an das jüdische Heiligungs- und Totengebet erinnern soll, unter seinem Judentum. Sein Geld verdient er mit einer Tätigkeit, die alles andere als heilig ist, denn er schlägt in nächtlichen Aktionen die Namen von den jüdischen Gräbern, so dass die Militärjunta keine Rückschlüsse auf die angehörigen Familien ziehen kann. Denn vor allem jüdische Bürger wurden von der nationalistischen Junta in Argentinien verfolgt. Einer seiner Auftraggeber bietet Kaddisch eine Nasenoperation an, um sich für dessen Dienste erkenntlich zu zeigen – die Gelegenheit, sich von dem offensichtlichsten Erkennungsmerkmal seines Jüdisch-Seins zu trennen. Die bittersüßen, ironisch-sarkastischen Ausflüge in die Dimensionen der jüdischen Identität, die über die Folgen dieser Nasen-Operation immer wieder aufgegriffen werden, zeugen von Englanders Reife und Erzähltalent. Diese tatsächlich amüsanten, zuweilen grotesken Abhandlungen über die Absurditäten des jüdischen Lebens stellen Englanders Roman in die Tradition eines Nikolai Gogol, Franz Kafka oder Jonathan Safran Foers. Den Umständen der argentinischen Diktatur zum Trotz zaubert er dem Leser mit derlei Abschweifungen immer wieder ein erleichterndes Schmunzeln auf die Lippen.

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Nathan Englander: Zur Linderung unerträglichen Verlangens. Aus dem Englischen von Martin Richter. Luchterhand Literaturverlag 2008. 239 Seiten. 9,- Euro. Hier bestellen

Das Ministerium für besondere Fälle ist aber vor allem eine ernst zu nehmende Allegorie auf den politischen Terrorismus. Während Pablos Eltern keinerlei Informationen über ihren Sohn erhalten, besteht für den Jugendlichen selbst nicht einmal die Möglichkeit, den Grund seiner Inhaftierung zu erfahren, ganz zu Schweigen von der Möglichkeit, sich zu verteidigen. Das Gewaltsystem ist aus den Diktaturen des 20. Jahrhunderts weit bekannt: »Sie benutzen Telefonbücher und Klassenlisten und alles, was zwei Menschen miteinander verbindet. Sie verhaften für nichts, weshalb sie sie auch nicht irgendeines Verbrechens anklagen, weshalb es geheim bleibt. Diese Regierung hat einen verrückten Krieg gegen persönliche Verbindungen begonnen. Sie haben eine nationale Bedrohung erfunden.« Wie den Poznans ging es daher tausenden von Familien zur Zeit des »schmutzigen Krieges«, deren Angehörige vom Staat entführt und von dessen Schergen getötet worden. Tausende wurden in nächtlichen Aktionen aus Hubschraubern und Flugzeugen in die städtischen Flüsse und in den Atlantik gestürzt. Bis heute wissen die meisten der betroffenen Familien nicht mit Gewissheit, was mit ihren Angehörigen geschehen ist.

Schaut man aus dieser Perspektive auf die Zustände unserer Tage, ist Das Ministerium für besondere Fälle auch eine Anspielung auf die Politik der USA und das amerikanische Gefangenenlager Guantanamo. Auch diese Menschen seien für ihre Familien plötzlich verschwunden und hätten keine Möglichkeit, ein faires Verfahren durchzusetzen, kommentiert der Schriftsteller selbst die Übertragung seines Romans auf die Moderne. Der Staat sei kein Unschuldslamm und die nahezu wahnhafte Einschränkung der rechtsstaatlichen Regeln im Rahmen des Kampfes gegen den wie auch immer gearteten Terrorismus mache dies seiner Ansicht nach deutlich.

Wenn Menschen verschwinden, bleibt nur die Sehnsucht zurück. »Ich vermisse ihn sehr.« Gesteht sich Kaddisch am Ende des Romans ein, wo ihm im Gegensatz zu seiner Frau längst klar ist, dass Pablo tot ist. Die Ehe der Poznans wird zerbrechen, da beide Antworten auf unterschiedliche Fragen suchen: Kaddisch will wissen, wie und wo sein Sohn umgekommen ist und vor allem, wie er an den Leichnam kommt, um ihn zu beerdigen, während seine Frau Lillian weiter nach der Zelle sucht, aus der sie ihren Sohn befreien kann. Je länger die Poznans suchen, umso verzweifelter klammert sich Lillian an die Hoffnung auf Pablos Rückkehr, während mit Kaddischs Überzeugung von Pablos Tod sein eigener Niedergang wächst. Die Unwiederbringlichkeit seines Sohnes macht ihm seine – nun sinnentleerte – Liebe umso deutlicher und lässt ihn an seinem Schicksal verzweifeln. Das Scheitern seiner Ehe ist dabei nur das Tüpfelchen auf dem i.

Mit Das Ministerium für besondere Fälle ist Nathan Engländer ein fulminanter Debütroman gelungen. Jede Seite zieht für sich in ihren Bann und wirft lange Schatten auf die ihr folgenden, denen man geradezu entgegenfiebert. Es entsteht ein wahrer Leserausch. Diktatur, Staatsterror und jüdische Identität, losgelöst von Holocaust und angebunden an das hier und heute – was will man mehr. Dieses Buch ist gewaltig in all seiner Vehemenz, Hoffnung und Kraft, pendelnd zwischen angedeutetem Horror und purer Ironie. Eine Sensation.

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