Literatur, Roman

Selbstmord auf offener Bühne

© Thomas Hummitzsch

Grandios inszeniert Michel Houellebecq in seinem aktuellen Roman »Karte und Gebiet« den eigenen Tod, wofür er mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet wurde.

Eine topografische Karte bzw. Landkarte bildet Geländeformen und andere sichtbare Details der Erdoberfläche ab. Als solches dient sie zur Veranschaulichung von topografischen Gegebenheiten und zuweilen auch der Orientierung. Ein Gebiet unterscheidet sich von einer Karte, als dass es ihr Subjekt ist. Die Karte ist es, die das Gebiet erfasst, ohne allerdings sein Wesen zu enthüllen. Denn mit dem Gebiet geht ein Rechtsanspruch einher, der sich nur offenbart, wenn man zur deutschen Sprachwurzel zurückkehrt. Gebiet leitet sich vom Wort gebieten ab und beschreibt einen Raum, über den sich die erlassenen Gebote erstrecken. Dahinter verbirgt sich die Territorialgewalt, ein sprachliches Konzept, welches im französischen Originaltitel des neuen Romans von Michel Houellebecq La carte et le territoire um einiges deutlicher wird.

Diese Differenz muss man sich kurz vor Augen führen, wenn man den neuerlichen grandiosen Wurf des französischen enfant terrible Houellebecq Karte und Gebiet zur Hand nimmt. Dabei scheint der Zusammenhang von Titel und Inhalt zunächst auf der Hand zu liegen, denn die Landkarten des französischen Reifenherstellers Michelin spielen eine nicht ungewichtige Rolle im ersten Teil des Romans. Jed Martin, ein kaum bekannter französischer Künstler, fotografiert Ausschnitte dieser Landkarten auf eine Weise, die die Betrachter anrühren.

Bei der Ausstellung einer seiner Kartografien lernt er Olga kennen, die bei dem Reifenhersteller für gute Presse sorgen soll. Die Fotografien der hauseigenen Landkarten scheinen ihr perfekt dafür geeignet und sie überredet Martin, eine ganze Serie der Fotografien anzufertigen und auszustellen. Die Bilderschau wird ein gigantischer Erfolg, die Kritiken feiern seinen künstlerischen Durchbruch. Zugleich beginnt er eine amour fou mit der bildhübschen Russin – »einer der fünf schönsten Frauen von Paris«, wie dem verdutzen Jed Martin ein gewisser Frédéric Beigbeder während einer Party vorschwärmt – die ihn in die Welt der Schönen und Reichen einführt. Erst als sie Paris gen Moskau verlässt, um dort das Renommee ihres Arbeitgebers zu steigern, beendet Martin seine Periode Straßenkarten – und die nahe liegende Verbindung von Erzählung und Titel löst sich auf.

Jed Martin steigt um auf Ölgemälde und zeichnet Porträts berühmter und weniger berühmter Personen, die er in ihrem beruflichen Umfeld inszeniert. Seine Gemälde tragen Titel wie Die Beate Uhse AG geht an die Börse, Der Ingenieur Ferdinand Piech besucht das Werksgebäude in Molsheim oder Bill Gates und Steve Jobs unterhalten sich über die Zukunft der Informatik. Es sind kraftvolle Porträts seiner Zeit, einmalige Stillleben einer Epoche der Geschwindigkeit, auf denen die Zeit angehalten und innegehalten wird. Einzig das Bild Damian Hirst und Jeff Koons teilen den Kunstmarkt unter sich auf will ihm nicht gelingen – frustriert zerstört er das Werk. Es scheint, als würde dem inzwischen erfolgreichen französischen Künstler das Abbild seiner noch erfolgreicheren Kollegen nicht von der Hand gehen. Nichts desto trotz ist Martins Galerist Franz von der Kraft der Bilder überzeugt und organisiert die nächste Vernissage. Für das Vorwort des Ausstellungskatalogs fehlt noch ein renommierter Autor. Kein geringerer als Michel Houellebecq wird dafür auserkoren. Es beginnt ein kongeniales autobiografisches Verwirrspiel, in dem der Autor Houellebecq sein romaneskes Alter Ego verwendet, um Legenden zu bewältigen und neue zu bilden. Um ihn selbst und die französische Kulturszene.

Michel Houellebecq: Karte und Gebiet. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. DuMont Buchverlag 2011. 416 Seiten. 22,99 Euro. Hier bestellen

Jed Martin macht sich auf den Weg nach Irland (wohin sich Houellebecq gemeinsam mit seiner Frau Ende der 90er Jahre zurückzog), um den Autor der Skandal- und Erfolgsromane Ausweitung der Kampfzone, Elementarteilchen und Plattform (der letzte Roman Houellebecqs Die Möglichkeit einer Insel wird im Roman nicht erwähnt) aufzusuchen und ihn darum zu bitten, das Vorwort für seinen Katalog zu verfassen. Dort entspinnt sich ein skurriler Dialog zwischen dem bildenden Künstler und dem zurückgezogenen Autoren, in dem der französische Autor seinem Alter Ego so manch brisanten Satz in der Mund legt, die durchaus seinen realen Kritikern gelten könnten. Etwa wenn es um den Alkoholkonsum geht: »Wissen Sie, die Journalisten haben mich in den Ruf gebracht, Alkoholiker zu sein, aber seltsamerweise ist keiner von ihnen je auf die Idee gekommen, dass ich in ihrer Gegenwart nur deshalb so viel trinke, damit ich sie überhaupt ertragen kann.

Seinen Höhepunkt erlebt dieses Vexierspiel der Identitäten und Perspektiven, als Jed Martin sein Anliegen vorbringt, denn Houellebecqs Antwort hat es in sich: »Ich bin gern bereit, das Vorwort zum Katalog ihrer Ausstellung zu schreiben. Aber sind sie sicher, dass es auch für sie eine sinnvolle Idee ist? Wissen Sie, die französischen Medien hassen mich auf unvorstellbare Weise, es vergeht nicht eine Woche, ohne dass mir irgendein Blatt einen reinwürgt. […] Befürchten Sie nicht, in die Schusslinie zu geraten, wenn Ihre Arbeit mit meinem Namen in Verbindung gebracht wird?« Als wenn es sich dieser Jed Martin noch aussuchen könne, ob er mit Houellebecq in Verbindung gebracht werde. Ohne Houellebecq, soviel kann man sagen, würde es den fatalistischen Jed Martin gar nicht geben, denn ohne den Autor gäbe es keinen Roman, indem der Künstler die Hauptrolle spielen würde.

Auch wenn man Roman und Realität nicht miteinander verwechseln soll – Houellebecq lässt in seinem neuesten Geniestreich gar nichts anderes zu. Dies liegt auch daran, dass er die Rezeption von Karte und Gebiet geradezu prophetisch vorwegnimmt und sie in seinen Roman einbaut: »In der Literatur und in der Musik ist es schlichtweg unmöglich, die Richtung zu ändern, da kann man sicher sein, dass man von der Kritik gelyncht wird.« Von der Kritik gelyncht wurde Houellebecq nicht, aber sein Roman wurde zum Skandalon in seiner französischen Heimat, weil er die Richtung geändert und eben nicht die Erwartungen an ihn als Skandalautoren erfüllt hatte. Dabei gab es kaum ein Buch, welches im vergangenen Herbst sehnsüchtiger erwartet wurde, wie ein Zitat aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum französischen Bücherherbst 2010 deutlich macht: »701 neue Romane erscheinen in diesem Herbst. Seit dreißig Jahren seien nicht mehr so viele französischsprachige Romane auf einmal herausgekommen, schreibt das Pariser Börsenblatt Livres Hebdo. … Aber alle warten nur auf Michel Houellebecq.«

Ein Aufschrei ging durch Frankreich, als La carte et le territoire im vergangenen Jahr erschien. Die bereits in den vorgestanzten Kritiken einkalkulierten Sexorgien, die Frauen verachtenden Perversitäten und zum Blasphemievorwurf taugenden Reminiszenzen fehlten. Dem neuen Roman des Skandalautors fehlte der Skandal. Ein Skandal!

Statt den Roman nach dieser Feststellung einer neuen Lesart zu unterziehen, stürzten sich die Kritiker auf einzelne Wikipedia-Passagen, die sie im Text fanden, um den erhofften Skandal dann doch noch zu bekommen. Dabei vergaßen sie, dass sie es mit einem Künstler zu tun hatten, der plagiierte, um die leere Hülle des Plagiierten vor Augen zu führen. Houellebecqs Sexorgien dienten nicht der eigenen Lustbefriedigung, sondern der Zurschaustellung einer obskuren Realität, in der Sexorgien zum guten Ton der Bohemiens und Dekadenten gehörten. Seine Romane gaben in ihrer Eindeutigkeit oft ein viel zu passgenaues Bild der Zeit ab und zogen gerade deshalb die Kritik auf sich. Dies hat sein Schriftstellerkollege und Freund Beigbeder (Autor von 39,90) mit Houellebecq gemeinsam.

In seinem neuen Roman fehlen diese Aufreger. Einzig seine Religions- und Ideologiekritik hat der Franzose nicht vollkommen abgelegt. Beide verbindet er in seinen Romanen gern zu einem unauflöslichen Amalgam. Die Säkularisierung der Moderne vollführt in seinem aktuellen Werk den Siegesmarsch. Fragen der kirchlichen Moral spitzt er zu, um sie sogleich ad absurdum zu führen. Die Tatsache, dass Jed Martins Vater am Ende des Romans in der Schweiz Selbstmord begeht, scheint in diesem Zusammenhang kein zufälliger Umstand zu sein. Viel zu eindeutig ist dieser Akt der Selbstbestimmung wie ein Triumph des Individuums über das Leben inszeniert.

Zugleich legt Houellebecq in Karte und Gebiet die Funktionalitäten des Kunstmarkts als einem der größten und verrücktesten der weltweiten Wirtschaftsmärkte offen. Seine Kritik am globalisierten Kapitalismus, die er bisher immer vollzog, indem er den Lesern dessen Realisierung in all seinen Romanen wie ein Spiegel vor Augen hielt, vollzieht er hier am Beispiel der Kunst. Die Loslösung von Subjekt und Objekt sowie die wild interpretierende Zusammenführung von Sujet und Bedeutung – nirgendwo wird dies so eindrucksvoll und vehement zelebriert, wie auf dem internationalen Kunstmarkt, wo das unheilvolle Triumvirat von Künstler, Kritiker und Käufer losgelöst von nachvollziehbaren Kategorien über Erfolg und Untergang bestimmt.

Mit seiner flachen, direkten Sprache zieht Houellebecq den Leser in seine neueste Geschichte hinein. Im dritten Teil geht es um die Aufklärung eines grauenhaften Verbrechens, welches sich Ende 2011 ereignet. Eine Aufklärung des Verbrechens scheint unmöglich – die französische Krimi-Queen Fred Vargas lässt in diesem abschließenden Teil stilistisch und choreografisch grüßen. Es ist aber Houellebecq, der hier ein weiteres Mal das Gebiet seines Romans vermisst und am Ende die Karte eines Verbrechens zeichnet, dem er selbst zum Opfer fällt. Irgendwann im Herbst 2011.

Roland Barthes hatte dereinst vom Tod des Autors gefordert, um deutlich zu machen, dass der Sinn eines Textes ganz allein vom Leser erzeugt wird. Seine Kritik richtete sich gegen die Interpretation eines Textes auf der Basis seiner Biografie – eine These, die Michel Houellebecq durch die Konstruktion seines neuen Romans unterläuft, um sie am Ende direkt auf sein Alter Ego zu übertragen. Für diese Überzeugungstat wurde er im vergangenen Herbst mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet.

6 Kommentare

  1. […] die literarische Qualität im Gegensatz zu seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman Karte und Gebiet zu wünschen übrig. Der Roman ist nicht, wie von einigen Kritikern unterstellt, demagogisch. Aber […]

  2. […] und weltweite Abhängigkeiten. Das erinnert manche an Autoren wie Michel Houellebecq oder Frédéric Beigbeder, ich sehe eher Parallelen zu den Dystopien von Dietmar Dath und der Entrückung der Welt, wie sie […]

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