Politik, Sachbuch

»Ohne Frieden ist alles nichts«

Der britische Ökonom Paul Collier beschreibt in seiner preisgekrönten Analyse »Die unterste Milliarde«, aus welchem Grund ein Sechstel der Menschheit immer mehr in absoluter Armut versinkt und warum es nicht hilft, ihnen mehr Geld zu geben.

Eine Milliarde Menschen fällt immer mehr hinter die sozial-wirtschaftliche Entwicklung der restlichen Welt zurück und verliert den Anschluss. Dem Schicksal dieser untersten Milliarde, die sich auf insgesamt 58 Länder verteilt, wendet sich der britische Afrika-Ökonom und ehemalige Leiter der Weltbank-Forschungsabteilung Paul Collier in seinem gleichnamigen Buch zu. Zu diesen ärmsten Ländern gehören Staaten wie Afghanistan, Angola, Äthiopien, Burma, Burundi, die Elfenbeinküste, Eritrea, Haiti, der Irak, Jemen, Kambodscha, Kasachstan, Kirgisien, der Kongo, Kuba, Laos, Liberia, Nigeria, Sierra Leone, Nepal, Nordkorea, Pakistan, Simbabwe, Somalia, der Sudan, Tadschikistan, der Tschad, Turkmenistan, Uganda, Usbekistan, die Zentralafrikanische Republik, Zaire. In diesen am wenigsten entwickelten Staaten beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung nur 50 Jahre; jedes siebente Kind stirbt, bevor es fünf Jahre alt wird; jedes dritte Kind leidet unter chronischer Mangelernährung. Die Wirtschaft in diesen Staaten befindet sich seit Mitte der achtziger Jahre mehr oder minder im freien Fall. Dies sind keine singulär afrikanischen Probleme, aber vor allem afrikanische Angelegenheiten. Warum scheitern die unterentwickelten Länder und was kann man dagegen tun, sind Fragen, denen Collier seit Jahren nachgeht. Unterstützt wird er dabei von einem Team an Wissenschaftlern und ambitionierten Studenten, welches man guten Gewissens als multikulturell bezeichnen kann. Dieses Team hat zahlreiche Statistiken untersucht und ausgewertet, selbst Studien betrieben und das Zahlenmaterial zusammengesammelt, auf dem Colliers statistische Ableitungen beruhen.

Die Länder, die die untersten Milliarde beheimaten, stecken in sich gegenseitig bedingenden Dilemmata fest, der Entwicklungsökonom Jeffrey Sachs bezeichnete dies als Entwicklungsfalle. Collier findet dieses Konzept nicht falsch, es ist ihm jedoch zu allgemein gehalten. Die Entwicklungsfalle sei keine einzige, auszumachende Falle, sondern ein Gemenge aus verschiedenen Schwierigkeiten. Er spricht in diesem Zusammenhang von der Konfliktfalle, der Ressourcenfalle, schlechter Regierungsführung, Binnenlage und schlechter Nachbarschaft. Dies sind die sich teilweise gegenseitig bedingenden Schwierigkeiten, die die am wenigsten entwickelten Länder tagtäglich zu Boden drücken und ein Vorankommen verhindern.

73 Prozent aller unterentwickelten Länder befinden sich in der Konfliktfalle, da in ihnen Kriege ausgetragen werden oder ausgefochten wurden. Bürgerkriege wirken dabei fataler als Kriege zwischen zwei Nationen, da sie fast zehnmal so lang andauern und daher die Volkswirtschaft erheblicher beschädigen. Dazu kommt, dass die ökonomischen Schäden eines solchen Krieges nicht mit dem Ende der Kämpfe verschwinden, sondern andauern und sich oft durch Flüchtlingsströme und ausbrechende Krankheiten auf die Nachbarländer übertragen. Die Region um den Kivusee bietet für diese These die besten Belege, in der seit Jahren der unerbittliche Kampf zwischen Hutu und Tutsi von einem Land ins nächste wandert. Es scheint fast logische Schlussfolgerung zu sein, dass Collier mit seinen Wissenschaftlern herausgefunden hat, dass in jedem zweiten Bürgerkriegsland innerhalb der folgenden zehn Jahre ein neuer Krieg ausbricht.

Die Ressourcenfalle trifft fast ein Drittel der untersten Milliarde, da sie in Ländern mit so genannter ressourcenreicher Armut leben. Das Problem in diesen Staaten besteht in schlechter Regierungsführung. Der Ressourcenreichtum führt zu verantwortungslosem Regierungshandeln und es entsteht eine neue Existenzgrundlage der Eliten: »Survival of the fattest«, nennt Collier diesen Zustand. In diesen ressourcenreichen unterentwickelten Ländern ist der Ausbruch eines Bürgerkrieges übrigens erhöht. Die Konfliktfalle wartet schon.

Schlechte Regierungsführung ist ein typisches Zeichen der ärmsten Staaten, drei Viertel von ihnen trifft es über einen längeren Zeitraum. In ihnen drücken Gewalt, Unterdrückung, Korruption, wirtschaftliche Malaise und ein schlechtes Gesundheitssystem dem Alltag ihren Stempel auf. Nun vertreten einige liberale Politologen und Ökonomen die Ansicht, dass es in Einzelfällen vielleicht sogar besser sei, Staaten zusammenbrechen zu lassen, um einem sinnvollen Neuanfang den Weg zu ebnen. Dem setzt Collier knallharte Zahlen entgegen. Die Wahrscheinlichkeit eines gescheiterten Staates, sein Schicksal zu irgendeinem Zeitpunkt zu einem besseren zu wenden, liegt bei einem Wert von unter 1:50. Wer dies gern plastischer hätte, schaue sich Somalia an, wo die US-amerikanische Regierung die notwendige Intervention wegen 18 toter Soldaten abbrach und diesen Staat dem Zerfall anheim gegeben hat. Das war 1993. Bis heute toben in der Region permanent Kämpfe zwischen den Clans und Banden, Hochseepiraten finden in der somalischen Küste ihr Rückzugsgebiet und auch Oberterrorist Osama bin Laden fand am Horn von Afrika zwischenzeitlich Zuflucht. Bei einer jährlich wiederkehrenden Chance auf Besserung von 1:50 bleibt Somalia aller Wahrscheinlichkeit nach noch die nächsten 36 Jahre der Horror in Afrika. Noch Fragen?

Zu schlechter Letzt spricht Collier von der Binnenlage der ärmsten Staaten und ihrer schlechten Nachbarschaft. Die fehlende Anbindung an ein Meer führt zu längeren und kostenintensiveren Transportwegen für Exportprodukte. Dabei sind diese Staaten auf die Infrastrukturen ihrer Nachbarstaaten angewiesen, die mal besser und mal schlechter sein können. Und in den wenigsten Fällen sind die Nachbarn der am wenigsten entwickelten Staaten vorbildliche Demokratien mit einem gut ausgebauten Straßen- und Schienennetz.

Aber warum hilft diesen Staaten nicht die Globalisierung, die Einbindung in die internationalen Märkte? Schlechte Regierungsführung, Bürgerkriege usw. hat die weltweite Wirtschaft doch als hemmende Phänomene längst entlarvt, Ressourcenreichtum kräftig belohnt und die Einhaltung der Menschenrechte honoriert? Es liegt schlicht daran, dass die ärmsten Länder in der freien Wirtschaft hinter den Marktführern aus Asien hinterherhinken und insbesondere die Chinesen sich nicht besonders darum scheren, welche politischen Verhältnisse in den Staaten herrschen, aus denen sie ihre Rohstoffe beziehen. Diese Staaten bleiben also schlecht und uneffizient regiert, was die Investitionsbereitschaft fremder Unternehmen in diesen Ländern erheblich schmälert. Privates Kapital wird abgezogen und die klügsten Köpfe kehren diesen Ländern den Rücken zu und gehen ins Ausland.

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Paul Collier: Die unterste Milliarde. Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann. Aus dem Englischen von Rita Seuß und Martin Richter. Verlag C.H.Beck 2008. 255 Seiten. 19,90 Euro. Hier bestellen

Egal wo man hinschaut, die Spirale führt nach unten! Wo liegen also die Lösungen? Entwicklungshilfe ist eine Möglichkeit, doch gerade für die Ärmsten der Armen gelten Sonderregelungen. So müsse der administrative Aufwand in diesen Ländern besonders hoch sein, um den sinnvollen und zweckgerichteten Einsatz der Hilfsleistungen zu kontrollieren. Dies entspräche einer völlig neuen Ausrichtung der Entwicklungshilfe, da momentan die helfenden Organisationen vielmehr dem Fehler erliegen, möglichst wenige Gelder in die Administration zu stecken, um den Großteil der verfügbaren Finanzen konkreten Projekten zuzuteilen. Doch dies führt nur zur Veruntreuung und Fremdverwendung der Entwicklungshilfe. 40 Prozent aller Militärausgaben in Afrika würden ungewollt durch Entwicklungshilfe finanziert, schätzt Collier. Und das Internationale Konversionszentrum hielt in seinem letzten Jahresbericht fest, dass insbesondere die unterentwickelten Staaten mehr staatliche Ressourcen für den militärischen Bereich zur Verfügung stellen, als für die Gesundheitsversorgung. Entwicklungshilfe erhöht in diesen Staaten daher oftmals das Konflikt- und Gesundheitsrisiko. Mehr Geld hilft also nicht, sondern der Einsatz der Entwicklungshilfe muss besser kontrolliert und an Konditionen gebunden werden. Dies erfordert einen größeren personellen und finanziellen Aufwand in der Phase nach der Auszahlung.

Eine zweite Lösung liegt in mehr Sicherheit durch militärische Interventionen und Präsenz, insbesondere in Nachkriegsgesellschaften. Collier kritisiert hier deutlich die bisherige Zurückhaltung der westlichen Gesellschaften. Es sei schrecklich, wenn Friedenssoldaten sterben, gesteht er, aber der Zweck moderner Armeen bestehe nun mal darin, »das öffentliche Gut des Friedens in Gebiete zu tragen, die sonst zu einem potentiellen Albtraum werden könnten.« Der kanadische Politologe Roland Paris fand jüngst zusätzlich heraus, dass ein Scheitern von derlei Interventionen und Friedenseinsätzen umso wahrscheinlicher ist, desto stärker zugleich auf die Liberalisierung der Märkte und die Demokratisierung der Gesellschaften gedrungen wird. Dieser liberale Friedensansatz verschärft nur die Konfliktlinien und provoziert ein erneutes Ausbrechen von Auseinandersetzungen. Zehn Jahre, so Collier, sollten ausländische Interventionen mindestens andauern, um das Wiederaufflammen von Konflikten zu verhindern.

Als weiteres Hilfsmittel, den unterentwickelten Ländern aus der Misere zu helfen, betrachtet Collier internationale Gesetze und Abkommen. Allerdings bleibt er hier im Ungenauen, inwiefern diese tatsächlich Fortschritte erzeugen, solange es keine Instanz mit robusten Mitteln gibt, die deren Einhaltung kontrollieren und garantieren könnte. Für Staaten mit schlechter Regierungsführung stellen derlei Abmachungen keinen Anlass für positive Verhaltensänderungen dar.

Zuletzt führt er die internationale Handelspolitik an, die die unterste Milliarde in neuer Gestalt aus dem Elend helfe solle. Dafür müsse sie jedoch zunächst einmal längerfristig geplant werden, denn Unternehmen investieren nicht, wenn sie nicht wissen, was künftig passiert. Darüber hinaus könnten regionale Handelsbündnisse eine Lösung darstellen, wenn sie nicht zu einer Abschottung nach außen führen. Denn dann hätten sie nur zur Folge, dass die armen Staaten sich gegenseitig das wenige Wasser abgraben, das ihre Bevölkerung am Leben erhält. Die Chance der untersten Milliarde besteht im Handel mit reicheren Staaten, schreibt Collier, »bei dem sie die Vorteile ihrer niedrigen Lohnkosten einsetzen« können. Handel entstehe durch Unterschiede, mache aber auch nur dann Sinn, wenn dieser reziproque Austausch zwischen arm und reich nicht wiederum durch den Aufbau von Subventionshindernissen in den reichen Staaten unterlaufen wird. Zugleich müssten die Exportleistungen steigen, um die inländische Produktivität nach oben zu treiben. Dies geht allerdings nur, wenn die in den armen Ländern ansässigen Unternehmen international konkurrenzfähig werden. Das könne nur funktionieren, so Collier weiter, wenn die ärmsten Länder vor der chinesischen und indischen Billigkonkurrenz geschützt werden. Der britische Ökonom fordert daher Privilegien für die unterste Milliarde als Anschubunterstützung, denn einer »fairen« Begegnung mit Asien auf den internationalen Märkten wäre sie nicht gewachsen.

Wer das alles durchsetzen und überwachen soll? Zum Großteil die Öffentlichkeit, fordert Collier, die sich endlich den wirklichen Nöten zuwenden und deren tatsächliche Beseitigung fordern soll. Tränenrührige Fototermine der Entwicklungshilfeminister helfen nicht bei der Bekämpfung der globalen Extremarmut. Aber ein effektiver Einsatz der finanziellen Mittel, eine effizientere Kontrolle der Mittelverwendung, politische ressortübergreifende Initiativen, internationale Verbindlichkeiten und ein kontrollierter wirtschaftlicher Wettbewerb, der den Schwächeren zumindest die Chance einräumt, stärker zu werden – dies alles sind Anliegen, die man fordern und kontrollieren kann, wenn man nur einmal über den eigenen Tellerrand hinausschaut. Ist dies erst einmal geschehen, sind die Regierungen und internationalen Organisationen und Gremien in der Pflicht und nicht zuletzt auch die Verantwortlichen in den Ländern der untersten Milliarde. Ohne ihr Zutun funktioniert alle Hilfe nicht, denn »ohne Frieden ist alles nichts«, um den Leitsatz Egon Bahrs zu zitieren.

Paul Collier gelingt es in seiner konzentrierten Analyse auf prägnante Art und Weise, nicht nur den Ist-Zustand der ärmsten Länder zu beschreiben, sondern Lösungsansätze zu präsentieren, die aus den Dilemmata führen könnten, in denen sich diese Staaten befinden. Dabei greift er die bisherigen Erfahrungen auf, präsentiert die gemeingültigen Schlussfolgerungen, die aus diesen (Miss-)Erfahrungen gezogen wurden, widerlegt oder bestätigt sie klug anhand selbst recherchierter Zahlen und Fakten – die er, ganz nebenbei, noch mit einer Vielzahl an Fallbeispielen mit Leben zu füllen weiß – und zeigt dann die alternativen Wege und Lösungen auf, die aus seinem Wissen und den bisher gemachten Erfahrungen stringent und folgerichtig sind.

Er scheut dabei auch nicht, kapitale Fehlleistungen mit den Verantwortlichen zu verknüpfen und die Dinge beim Namen zu nennen: Nichtregierungsorganisationen bezeichnet Collier schon mal als »nützliche Idioten«, die immer wieder um dieselben Projekte konkurrieren, statt ihre Gelder sinnvoll zu verteilen. Korrupte Politiker und egoistische Despoten nennt er auch so und verschweigt nicht deren Unwillen zur verantwortlichen Führung. Und die entwickelten Länder mahnt er mehr als einmal, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Nur so kann dem globalen Fortschritt eine Chance gegeben werden, ohne dabei ein Sechstel der Weltbevölkerung abzuschreiben.

Collier besitzt aber zugleich auch die notwendige Sensibilität, die wenigen Erfolgsgeschichten in den betroffenen Ländern nicht in der Misere dem internationaeln Versagen untergehen zu lassen. Die oft unbekannten Helden in den Ministerien der Staaten, die sich an schmerzhafte aber Erfolg versprechende Reformen wagten, erfahren in Colliers analytischem Aufklärungswerk die Erwähnung, die ihnen gebührt. In diesen Ländern tobe ein heftiger Kampf zwischen einigen »mutigen Menschen, die Veränderungen herbeizuführen suchen, und mächtigen Gruppen, die sich ihnen in den Weg stellen. … Der Kampf um die Zukunft der untersten Milliarde findet nicht zwischen einer bösen reichen und einer edlen armen Welt statt. Er findet innerhalb der Gesellschaften der untersten Milliarde statt, und bis jetzt haben wir weitgehend zugeschaut.«

Glasklare Schlussfolgerungen wie diese zeigen nicht nur, dass Collier ohne jeden Zweifel ein absoluter Experte auf dem Gebiet der internationalen Ökonomie ist und zu recht bei Regierungen und internationalen Akteuren ein- und ausgeht. Sie beweisen auch, dass der Direktor des Zentrums für afrikanische Wirtschaftsstudien an der Universität in Oxford nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft vor sich hinforscht, sondern dass er durchaus mit den weltlichen Tatsachen der Realpolitik vertraut ist.

Paul Colier erhielt für sein Buch in diesem Jahr den internationalen Buchpreis Corine in der Sparte Wirtschaftsbuch. Die Jury lobte sein Buch schlichtweg als eine »brillante Einführung in das Funktionieren der globalen Ökonomie« sowie als »messerscharfen Appell, die ärmste Milliarde Menschen nicht zu vergessen.« Dem gilt es kaum mehr etwas hinzuzufügen, als die Aufforderung, dieses Buch zu lesen.

3 Kommentare

  1. […] Egozentriker, Wegschauer und Opportunisten, zu denen in seinen Augen Louis Aragon, Bert Brecht, Egon Bahr oder Christa Wolf gehören. »Dissidentisches Denken« heißt bei ihm machtkritisch zu sein und die […]

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