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Die Banlieue als Baustelle

Nach den Unruhen in den französischen Vorstädten unterzog der Soziologe Robert Castel die gesellschaftlichen Verhältnisse in Frankreich einer schonungslosen Untersuchung. Dabei stellte er fest, dass nicht die fehlende Integration der Einwandererkinder in den Vorstädten, sondern die gesellschaftliche Realität der Grande Nation den Anlass für die Ausschreitungen darstellte.

Als im Dezember 2005 in dem Pariser Vorort Clichy-sous-Bois zwei junge Franzosen afrikanischer Herkunft bei dem Versuch ums Leben kamen, sich einer polizeilichen Durchsuchung zu entziehen, kam es in den französischen Vorstädten zu schweren Ausschreitungen. Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy sprach von einem Aufstand des »Gesindels«, dem nur mit dem reinigenden Kärcher beizukommen sei. Nach einem Unfall zwei Jahre später, bei dem erneut zwei Jugendliche afrikanischer Herkunft zu Tode kamen, schwappte erneut eine Welle der Gewalt durch die Pariser Banlieues und Sarkozy, zu dem Zeitpunkt bereits Staatspräsident, reagierte ähnlich abfällig: »Was in Villiers-le-Bel passiert ist, hat nichts mit einer Gesellschaftskrise zu tun, sondern nur mit einer Herrschaft der Gauner«, ließ er verlauten.

Werden solche Reaktionen von Frankreichs höchstem Repräsentant den sozialen Verhältnissen gerecht, mit denen die Jugendlichen in den französischen Vorstädten tagtäglich konfrontiert sind? Jugendliche, die zumeist der zweiten oder dritten Einwanderergeneration angehören und sowohl in politischer als auch in sozialer Hinsicht die französische Staatsbürgerschaft besitzen. Der französische Soziologe Robert Castel verneint das in seinem Buch Negative Diskriminierung, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt.

Als Forschungsdirektor an der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales und Mitgründer der sozialwissenschaftlichen Forschungsgruppe GRASS hat Castel die Jugendrevolten zum Anlass genommen, die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sich diese abgespielt haben, unter die Lupe zu nehmen. Nach unzähligen Konferenzen und Veröffentlichungen zu diesem Thema, die zumeist ethnische und religiöse Differenzierungsprozesse als Erklärungsmuster heranziehen, ist Castels Ansatz ein anderer. Er zieht nicht das Versagen der Vorstadtjugendlichen, ihrer Eltern oder des französischen Integrationssystems als erklärendes Moment heran, sondern fragt nach den ursächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen, die die Gewaltausbrüche in den Vorstädten möglich gemacht haben.

Im Zentrum steht dabei die Frage, inwiefern diese Jugendlichen in ihrem Alltag »negativ diskriminiert« werden und welche Folgen dies für die einzelnen Jugendlichen einerseits und die französische Gesellschaft andererseits hat. Unter negativer Diskriminierung versteht Castel, »aufgrund einer Eigenart abgestempelt zu werden, die man sich nicht ausgesucht hat, die aber für die anderen zum Stigma wird.«

Ausgehend von der Entstehungsgeschichte der Banlieue als Trabantenstadt analysiert Castel die Entstehung der verzweifelten Überzeugung eines Großteils der Vorstadtjugendlichen, in der französischen Gesellschaft »keine Zukunft zu haben«. Ursächlich dafür sei die nachweisbare Ungleichbehandlung der ethnischen Minderheiten, die sich für die Betroffenen nachteilig auswirkt. Um diese negative Diskriminierung nachzuweisen, arbeitet der Soziologe die verschiedenen Formen signifikant und einleuchtend heraus.

Zum Beispiel spricht Castel von einer aggressiven Omnipräsenz der staatlichen Ordnungskräfte, die in seinen Augen der Gleichsetzung einer ganzen Bevölkerungsgruppe mit potentiellen Straftätern entspricht. Das Resultat dieser ethnischen Kriminalisierung besteht momentan darin, dass zehnmal mehr Jugendliche mit einem im Maghreb geborenen Vater in den französischen Gefängnissen einsitzen, als Jugendliche mit einem in Frankreich geborenen Vater.

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Robert Castel: Negative Diskriminierung. Jugendrevolten in den Pariser Banlieues. Aus dem Französischen von Thomas Laugstien. Hamburger Edition 2009. 122 Seiten. 15,- Euro. Hier bestellen

Ähnliche Feststellungen konnte Castel für den französischen Arbeitsmarkt treffen, so dass er die exorbitant hohen Arbeitslosenraten als Folgen der nachweisbaren ethnischen Benachteiligung ansieht. Für manche Randbezirke der französischen Metropolen nennt er Arbeitslosenraten von bis zu fünfzig Prozent. Wie es zu solchen Zahlen kommen konnte, macht er anhand einer Studie der Beobachtungsstelle für Diskriminierung der Sorbonne-Universität Paris deutlich, die die Bewerbungserfolge von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund gegenüberstellt. Ein direkter Vergleich identischer Bewerbungsunterlagen ergab, dass ein Jugendlicher mit einem stereotypisch französischen Namen 75 Mal zu einem Gespräch eingeladen wurde, ein Jugendlicher mit einem offensichtlich maghrebinischen Namen jedoch nur 14 Mal. Diesen »ethnisch-rassischen« Auslese-Faktor weist Castel auch für das französische Schulsystem nach, dem er folglich das Scheitern attestiert. Junge Maghrebiner seien in der Konsequenz die am stärksten benachteiligte Gruppe in Frankreich, erklärt er. »Sie finden entweder gar keine Arbeit […] oder üben die unqualifiziertesten, schlechtestbezahlten und prekärsten Tätigkeiten aus.« In der religiösen Stigmatisierung der vorrangig maghrebinischen Jugendlichen sieht Robert Castel schließlich den gesellschaftlichen Reflex auf die unübersehbaren sozialen Missstände.

Die Aufstände in den Vorstädten sind für den Pariser Professor daher vielmehr ein Ausdruck der Empörung über die innere Ausgrenzung, die die Jugendlichen in ihrem Alltag erfahren, als ein Anzeichen einer Machtübernahme des »Gesindels«. Die Jugendlichen in den Vorstädten leben in einer Gesellschaft, die alles verspricht und wenig hält, so der Soziologe. Das Etikett mit Migrationshintergrund ist dabei das unübersehbare Zeichen für die anhaltende innergesellschaftliche Ablehnung, da es auf französische Staatsbürger angewandt wird, deren Verhältnis zur Migration mehrere Generationen zurückliegt. Die Berufung darauf verweist daher auf etwas Unspezifisches, das selbst unter größten Integrationsbemühungen und Leistungen nicht verschwinden kann. In den Unruhen in den französischen Vorstädten habe sich das soziale und das ethnische Problem überlagert, schreibt Castel in seiner Analyse. Die dort lebenden Jugendlichen würden diese an sie herangetragene »doppelte Benachteiligung der Rasse und der Klasse« und das damit verbundene Schwinden von Lebenschancen und -träumen tagtäglich erleben.

Was man Castel zugute halten kann, ist sein mehrdimensionaler Blick. Er fragt nicht allein nach den Zuständen in den Vorstädten, sondern auch nach den Verhältnissen im ländlichen Raum Frankreichs. Er sucht nicht nur nach den herrschenden Problemen, sondern auch nach den allgemeinen Ursachen im gesellschaftlichen Miteinander. Indem er so nach den Beweggründen für die Aufständischen sucht, gelingt es ihm, die Gewaltausbrüche zu kritisieren, ohne dabei über die revoltierenden Jugendlichen zu urteilen.

Zugleich gerät ihm dabei vereinzelt die relative Lebenswirklichkeit der Jugendlichen aus den Augen, z.B. wenn er das Vorstadtleben mit dem in der nordfranzösischen Kleinstadt vergleicht und zu dem Schluss kommt, dass es den Banlieue-Bewohnern kaum schlechter oder sogar besser gehe, als dem Provinzfranzosen. So ist es zwar richtig, dass die Sozialraumförderung der französischen Vorstädte um ein Vielfaches höher ist, als für den ländlichen Raum, aber Castel vergisst dabei, dass die unausweichliche Differenz zwischen den viel versprechenden Möglichkeiten und den realen Lebensverhältnissen auf dem Land nicht derart deutlich vor Augen tritt, wie in der Großstadt.

Die Banlieue stehe aber nicht »am Abgrund«, sondern sei eine Baustelle, auf der sich das republikanische Modell beweisen müsse, betont Castel am Ende seiner Untersuchung. Frankreichs Präsidialdemokratie müsse zeigen, dass sie nicht nur in einer »weitgehend monoethnischen, monokulturellen und monoreligiösen Gesellschaft« funktioniere. Hierfür müssten nun aber der negativen Diskriminierung mutig entgegen getreten und ihr Fördermaßnahmen gegenüber gestellt werden. Dies könnten Bildungsinitiativen oder Ausbildungspakte ebenso sein wie auch städtebauliche Veränderungen, von denen dann sowohl die sozial Benachteiligten Bürger ohne familiäre Einwanderungsgeschichte als auch die Jugendlichen »mit Migrationshintergrund« profitieren können.

Castels Negative Diskriminierung ist ein Buch, das sich auch in Deutschland zu lesen lohnt, denn es präsentiert einen Ansatz, der auch in den sensiblen Sozialräumen deutscher Großstädte Anwendung finden könnte.