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Großvater war Kriegsgefangener

Florent Silloray hat in seinem Comic »Auf den Spuren Rogers« die Erlebnisse seines Großvaters als Kriegsgefangener der Deutschen nachgezeichnet und damit einen enormen Beitrag zur Aufarbeitung eines Tabuthemas geleistet.

Als der französische Kinderbuchillustrator Florent Silloray im Frühling 2007 gemeinsam mit seiner Mutter und Großmutter den Nachlass seines vier Jahre zuvor verstorbenen Großvaters sortiert, zieht ein kleines, kartoniertes Moleskine-Tagebuch seine Aufmerksamkeit auf sich. Er entdeckt darin die Aufzeichnungen seines Großvaters Roger, der im Herbst 1939 in die französische Armee berufen, im Frühsommer 1940 von der deutschen Armee gefangen und schließlich über Belgien und Luxemburg nach Deutschland gebracht wurde. Von diesen Kriegserlebnissen erzählt hat Roger seiner Familie nie. Aber er hat 70 mit Bleistift fein beschriebene Seiten hinterlassen, auf denen er seine Ängste und Hoffnungen, Beobachtungen und Erfahrungen als Soldat und Gefangener zwischen 1939 und 1941 reflektiert.

Dieses Notizbuch, von dem hier die Rede ist, ist Ausgangspunkt und Grundlage der Arbeit von Florent Silloray
Das Notizbuch des Großvaters ist Ausgangspunkt und Grundlage der Arbeit von Florent Silloray

Roger wurde im Alter von 27 Jahren direkt von der Ernte an die Waffe gerufen, um Frankreich und Belgien vor den heranrückenden deutschen Truppen zu beschützen. Doch schon in den französischen Ardennen geriet seine Einheit in einen Hinterhalt und wurde von der deutschen Armee gefangengenommen. Als Kriegsgefangener nahm er an den langen Gefangenenmärschen bis in die Kriegsgefangenenlager nach Sachsen und Brandenburg teil. In seinem Tagebuch, das die Zeit von September 1939 bis Dezember 1940 umfasst, berichtet Roger detailliert von der Mobilisierung der französischen Bevölkerung, der miserablen Versorgung und Organisation der französischen Armee, von der überfallartigen Gefangennahme durch die Deutschen, über die Zustände in deutscher Gefangenschaft und über die Ausbeutung der Kriegsgefangenen in den deutschen Arbeitslagern.

Sein Enkel Florent Silloray ist in die Fußstapfen seines Großvaters getreten, die er mit seinem Tagebuch hinterlassen hat und hat die Stationen dieser zwei Jahre Stück für Stück bereist, um verstehen und physisch nachvollziehen zu können, was seinem Großvater widerfahren ist. Dabei berührt Silloray das, wenn nicht vergessene, so doch immer wieder verdrängte Kapitel der Zwangsarbeiterschaft. Er bereist mit seinem Übersetzer und späteren Freund – mit mulmigem Gefühl im Bauch, wie er schreibt – die ehemaligen Stammlager in Mühlberg, Neuburxdorf und Domsdorf und fährt ins Dokumentations- und Informationszentrum für Kriegsgefangene in Torgau, um den Spuren seines Großvaters möglichst minutiöse folgen zu können. Dass er bei all seinen Recherchen nicht nur auf offene Augen und Ohren stößt, gibt der Geschichte eine durchaus bittere Note.

Noch ist die Atmosphäre gelöst, doch schon bald gerät Roger in deutsche Kriegsgefangenschaft
Noch ist die Atmosphäre gelöst, doch schon bald gerät Roger in deutsche Kriegsgefangenschaft

Die dokumentierten Erlebnisse seines Großvaters und die eigene Reise auf den Spuren seines Großvaters führt er in seinem ersten Erwachsenencomic Auf den Spuren von Roger zusammen. Dieser liest sich wie das Dokument einer Pilgerreise, indem er einerseits die Suche nach den Spuren des Großvaters abbildet und dieser das auf die Bildebene gehobene Tagebuch gegenüberstellt. Zwischen den historischen Bildern läuft der Fließtext aus dem Tagebuch. Wenngleich die einzelnen Teile grafisch durch Farbgebung, Text-Bild-Komposition und erzählerisch klar voneinander getrennt sind, laufen sie in der übergreifenden Erzählung dieser Suche nach der Familiengeschichte gelungen ineinander über. Silloray erzählt eindringlich die wechselreiche Geschichte der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter, aber auch die der Enkelgeneration. Etwa wenn er sich mit seinem deutschen Dolmetscher austauscht und sich plötzlich die Enkel zweier Männer, die sich im Krieg als Feinde gegenüberstanden, die Geschichten ihrer Großväter erzählten.

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Florent Silloray: Auf den Spuren von Roger. Aus dem Französischen von Volker Zimmermann. Avant-Verlag 2013. 106 Seiten. 24,95 Euro. Hier bestellen

Zugleich hat sich Silloray an ein Tabu gewagt. Wo er in Frankreich auch auftritt, wird ihm Dank ausgesprochen, dass er endlich das jahrzehntelange Schweigen gebrochen habe, das in vielen Damilien herrscht. Insgesamt 1,6 Millionen Franzosen kamen nach dem Krieg als Kriegsgefangene aus Deutschland zurück. In den meisten Familien wurde aber nie über die Erlebnisse der Großväter-Generation gesprochen – vermutlich, weil sie nicht als Helden zurückgekehrt sind. Die Helden, das waren die Amerikaner, die Briten und die Aktiven im Widerstand. So haben sie ihre Geschichten für sich behalten. Ein eisiger Schleier des Schweigens lag über diesem Thema.

Erzählerisch leiht sich Silloray für seinen ersten Erwachsenencomic Erzähltechniken und Motive bei den zahlreichen comicalen Weltkriegsverarbeitungen von Jacques Tardi, Emmanuel Guibert oder Art Spiegelman, und findet zugleich seinen ganz eigenen Weg.  Zwar liegt der grafische Schwerpunkt dieses Comics auf der historischen Ebene, der Ausgangspunkt der Erzählung scheint aber sein Wandeln in den Fußstapfen des Großvaters zu sein. Immer wieder wird die historische Erzählung an die Recherche bildhaft angeschlossen und nicht andersherum. So ist Auf den Spuren von Roger ein gleichermaßen historisches Werk wie auch eine aufrichtige Arbeit der Selbstreflektion und Selbstsuche in den Tiefen der dunklen Kapitel der europäischen Geschichte.

Wer sich über die Entstehung und Hintergründe des Comics informieren möchte, kann dies auf dem dazugehörigen Blog machen.