Literatur, Roman, Zeitgeist

Von der Welt verlassen

Eine unheimliche und seltene Krankheit steht im Mittelpunkt des neuen Romans von Clemens J. Setz, dem schreibenden enfant terrible aus Österreich. »Indigo« ist eine schillernde Spurensuche nach dem Menschlichen im Menschen, ein berührendes Dokument des Scheiterns, eine sarkastische Abrechnung mit der (Pseudo)Wissenschaft und ein sprachartistischer Seiltanz auf höchstem Niveau.

Nicht lange braucht es, bis sich der Leser des neuen Romans des österreichischen enfant terrible’ Clemens J. Setz wie ein in Tschernobyl oder Fukushima ausgesetzter nackter Säugling fühlt. Schutzlos ist er den enormen Strahlungen ausgeliefert, die aus dem Buchstabensumpf seines genial-surrealen Romanneulings Indigo aufsteigen. Benebelt findet er sich mitten »in der Zone« wieder, die sich als unheilvolle Aura um jene Kinder ausbreitet, die diesem Meisterwerk deutschsprachiger Wortkunst seinen Namen geben.

Indigo! Was klingt wie die Farbe einer Jeans, ist eine Art schicksalhafte Krankheit einiger Kinder, die, ohne etwas zu tun, zur unerträglichen Belastung ihrer Umgebung werden. Denn die Krankheit – gehen wir für die Dauer dieser Rezension einmal davon aus, dass es eine ist – führt dazu, dass ausnahmslos all jene, die in den auratischen Wirkungskreis dieser »I[ndigo]-Kinder« treten, von unerträglichen Kopf- und Gliederschmerzen, Schwindelgefühl und Übelkeit heimgesucht werden. Erst das Verlassen »der Zone« führt dazu, dass die Leiden nachlassen oder vielleicht ganz aufhören. Die verheerende Wirkung der Krankheit hat zur Konsequenz, dass die Indigos isoliert von ihrer Umwelt aufwachsen. Erst im Erwachsenenalter lässt die Wirkung der Krankheit nach. »In gewissem Sinn sind sie wie Glühbirnen. Irgendwann einmal brennt es sich aus, sie brennen durch, die Wirkung erlischt.« Mit diesen Worten erklärt der Direktor eines speziellen Internats für I-Kinder, dem Proximity Awarenes and Learning Center Helianau in der Steiermark, seinem Praktikanten und Ich-Erzähler Clemens Setz die Krankheit und ihre vergehende Wirkung.

Jener Clemens Setz, unschwer als Alter Ego zum Autoren des Romans zu entschlüsseln, hat mit eben jenem eine ganze Menge gemeinsam. Beide sind gleich alt, haben einen ähnlichen Wissensdurst, schreiben gern schräge Texte und fühlen sich von den Skurrilitäten dieser Welt eher angezogen als eingeschüchtert. Dies geht sogar soweit, dass beide nicht mehr lieferbare Bücher konsumieren. Als Autor der Serie Nicht mehr lieferbar schrieb »der echte« Clemens J. Setz vor etwa einem halben Jahr in der österreichischen Literaturzeitung VOLLTEXT eine unwiderstehliche Hymne über das Werk des japanischen Autoren Abe Kōbō. Dessen letzter vollendeter Roman Die Känguruhhefte bezeichnet der junge Mathematiklehrer (und unechte) Clemens Setz in seinen Aufzeichnungen als »meinem Lieblingsroman«. Ein Zufall? Ganz sicher nicht. Der echte Österreicher will zum Verwechseln verführen.

Der Roman-Setz begegnet bei seinem Praktikum 2007 in Helianau erstmals den außergewöhnlichen Kindern, die die Geigerzähler ihrer distanzierten Mitmenschen zum Ausschlagen bringen. Allerdings tut sich bei ihm selbst wenig. Weder beim Übertreten des Sicherheitsabstands noch beim Ignorieren der so genannten »I-Zahl« – deren Wert die Sekunden angibt, die normale Menschen innerhalb der Zone verbringen können, bevor die unheilvollen Symptome auftreten – stellt der junge Mathematiklehrer irgendwelche Beschwerden bei sich fest. Stattdessen machen ihn die Informationen stutzig, die er von dem Direktor, den Kollegen am Institut sowie den betroffenen Eltern bekommt. Sie alle berichten von unerträglichen, aber nicht-überprüfbaren Schmerzzuständen in der Nähe der Kinder, dem Anschwellen und Abschwellen der Intensität dieser Beschwerden je nach körperlicher Nähe oder Distanz sowie einer ominösen Praxis namens “Relokation”, bei der die betroffenen Kinder in seltsamer Kostümierung »entfernt« werden. Was das heißt und wohin die Kinder »entfernt« werden, will ihm keiner genau erklären, aber alle versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass das »Relozieren« der Kinder das Beste sei, was ihnen passieren könne.

Diese Mischung aus Halb-, Viertel und Nullinformationen führt dazu, dass der Mathematiklehrer und Journalist Clemens Setz stutzig wird und beginnt, zu recherchieren. Das sorgt für Unmut und führt zu seiner Entlassung. Dieser folgen die Recherchen zu einem zweiteiligen Beitrag in der deutschsprachigen Ausgabe des National Geographic unter dem Titel »In der Zone«, in der er über die I-Kinder und das sie umgebende Mysterium schreibt.

Cover
Clemens J. Setz: Indigo. Suhrkamp Verlag 2012. 479 Seiten. 22,95 Euro. Sonderseite des Verlags: http://indigo.suhrkamp.de/

Dies ist nur eine Ebene dieses fantastischen Romans von Clemens J. Setz, der den Leser einmal mehr in eine Welt entführt, die sich dieser weder in seinen kühnsten Träumen noch in seinen fürchterlichsten Albträumen hatte ausmalen können. Dabei bedient sich der Österreicher dem von Esoterikern in die Welt gesetzten Mysterium der Indigo-Kinder, denen außergewöhnliche psychische und spirituelle Eigenschaften zugeschrieben werden. Setz verkehrt diese bewundernde Zuschreibung in ihr Gegenteil und wandelt die »Begabung« in den Ursprung eines lebenslangen Leides.

Den Einheitsbrei der deutschen Werkstattliteratur mischt Clemens Setz mit dieser Geschichte erneut auf, indem er ekstatisch seine lebendige Sprache darüber ausschüttet und diesen darunter begräbt. »Ich möchte mir die Arme abschnallen und in die Erde pflanzen« ist einer dieser absurden Sätze, die in ihrer Unmöglichkeit über den bloßen Sprechakt hinausweisen und eine Ebene der Radikalität erschließen, die nur wenige deutsche Autoren erreichen. »Ein Becher voller Pupille« ist ein anderer, der dem dringend benötigten Kaffee nicht nur einen Namen, sondern eine individuelle Bedeutung über das normale Maß hinaus gibt.

Clemens Setz ist aber nicht nur ein Virtuose der Semantik, sondern auch ein meisterhafter Jongleur, der ein Vexierspiel mit den verschiedenen Erzählebenen und Perspektiven betreibt. In Indigo erzählt er seine Geschichte auf mindestens vier verschiedenen Ebenen. Neben die Erzählung des jungen Mathematiklehrers Clemens Setz (die – am Rande bemerkt – nur eine Aufzeichnung ist), stellt der österreichische Schriftsteller die Geschichte von Robert Tätzel, einem ehemaligen I-Kind und Schüler von Clemens Setz, der 15 Jahre nach dessen Internatsaufenthalt vom Freispruch seines ehemaligen Lehrers in einem spektakulären Mordfall erfährt. Diese Geschichte verortet den Roman in einer nicht allzu fernen Zukunft und macht dieses düstere Esoterik-Märchen zur Dystopie, in der eine von jeglicher Kultur befreite Gesellschaft auf sich selbst zurückgeworfen wird.

Zugleich bindet dieses Szenario die Negativutopie eng an die Wirklichkeit. So erfährt man etwa über den Mathematiklehrer Setz, dass dieser »in den letzten Jahren [vor der ihm angelasteten Tat] vor allem Science-Fiction-Romane« geschrieben haben soll. »Abkehr von der Belletristik«, liest man in dem doch recht futuristischen Roman, den man in der Hand hält, und fragt sich, ob vielleicht auch von eben jenem hier gesprochen wird. »Die enorme Masse der zu erzählenden Einzelteile ballte sich vor mir zusammen, und ich konnte nicht mehr weitersprechen«, zitiert Clemens Setz sich selbst in seinen Aufzeichnungen – der Autor den Mathelehrer und der gealterte Mathelehrer den jungen Praktikanten. Angesichts der Füller der (scheinbar) dokumentierenden Stoffe, die Setz in diesen Roman eingebunden hat, ist nicht auszuschließen, dass auch dieses Zitat über die fiktive Ebene hinausweist.

Diese hat Setz in seinem Roman in zwei Mappen sortiert, die Tätzel von seinem ehemaligen Lehrer übergeben bekommt; eine Art schriftliche Erklärung. In diesen Mappen – einer grünen und einer rot karierten – befinden sich neben persönlichen Dokumenten des angehenden Lehrers auch zahlreiche Aufzeichnungen von Gesprächen, Artikel, Buchausschnitte, Studien, Fotografien und vieles mehr. Ein bunter Reigen aus echten und unechten Schriftstücken, die dem Leser lange Zeit die vermeintliche Gewissheit geben, dass es sich hier nicht nur um Ausgedachtes handeln kann. Eine besonders geheimnisvolle Rolle spielt darin ein gewisser Ferenc, der scheinbar mehr als alle anderen über das Schicksal der Indigo-Kinder Bescheid weiß. Diese Zettelkästen – »Fußgängerampelsystem, sagte Setz. Grün: Go. Rot: No-Go« – treiben das Spiel von Fiktion und Wahrheit auf die Spitze, indem sie historische Wahrheit in den Bereich des Möglichen rücken.

Ob Tätzel oder nicht doch einfach nur der jeweilige Leser dieses Romans die Dokumente in diesen Mappen liest, wird am Ende nur angedeutet und bleibt ebenso im Ungefähren wie fast alles in dieser Erzählung. Zwar erfahren die Lesenden in zahlreichen Einzelgeschichten die kleinsten Details aus dem Leben der Protagonisten, erkennen aber zugleich nahezu nichts. Es ist, als würde Setz seine Leser so nah an den Wald heranführen, bis diese nur noch die Bäume, aber nicht mehr das Arboretum sehen. Ganze Dialoge enden im Ungefähren, bleiben inhaltslos und leer. Der Leser wird auf diese Weise der gleichen sektiererisch-psychedelischen Abwärtsspirale übergeben, in die auch Setz’ Alter Ego gerät.

»Im Leben gibt es selten Happy Ends. Aber zumindest Fair Ends«, beschwichtigen die Eltern der Indigo-Kinder das bedauernswerte Schicksal, in das sie ihre Kinder stoßen. Happy Ends – Fair Ends – Fairy Tales. Wer bereit ist, diesen Dreischritt zu machen, der gelangt dahin, wo die Wahrheit bei Clemens J. Setz beginnt: beim Märchen.

Die Fragen, die Setz dabei aufwirft, sind von existenzieller Bedeutung: Wie funktioniert Wissenschaftsgläubigkeit und wie das genaue Gegenteil, die Pseudowissenschaft? Was ist menschlich und was human? Wo beginnt Mitgefühl und wo Mitleid? Was kann der einzelne ertragen und wo reicht das individuelle Schicksal an die gesellschaftliche Ignoranz heran. Und wozu braucht es all diese Fragen oder braucht es sie nicht? Wie Gesellschaft nicht funktioniert, führt Setz seinen Lesern immer wieder vor Augen.

Für seine in dem Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes versammelten Schauermärchen der Moderne wurde Setz vor zwei Jahren mit dem Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2012 ging die unzähmbarste deutsche Stimme der deutschen Literatur leer aus. Das macht nichts. Denn mit Ursula Krechel hat dieser nicht nur eine verdiente Siegerin gefunden, sondern Clemens J. Setz wird sicher nicht das letzte Mal nominiert gewesen sein. Denn kein anderer deutschsprachiger Autor vermag mit seiner Muttersprache derart virtuos zu spielen, wie er.

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