Ist ein Leben nach dem Lager – wenn Humanität und Kultiviertheit unter den Eindrücken des Inhumanen ihre Relevanz verlieren – möglich, ohne ständigen Zweifel an der menschlichen Zivilisation? Dies ist die große Frage, die Warlam Schalamows »Erzählungen aus Kolyma« zugrunde liegt.
»Ein Mann geht voran, schwitzend und fluchend, setzt kaum einen Fuß vor den anderen und bleibt dauernd stecken im lockeren Tiefschnee. Der Mann läuft weit vor und markiert seinen Weg mit ungleichen schwarzen Löchern. […] Auf der schmalen Spur folgen fünf, sechs andere, Schulter an Schulter. Sie treten um die Fußspur herum, nicht hinein. An der zuvor bezeichneten Stelle angekommen, machen sie kehrt und laufen wieder so, dass sie frischen Schnee berühren, eine Stelle, die der Fuß des Mannes noch nicht betreten hat. Der Weg ist gebahnt.«
Durch den Schnee lautet der Titel dieser ersten von 155 Erzählungen und Novellen, die der russische Schriftsteller Warlam Schalamow zu seinem Lebenswerk zusammengestellt hat, welches nun erstmals vollständig in deutscher Sprache zugängig ist. Schalamows Erzählungen aus Kolyma – will man einen Vergleich anstrengen, müsste man Primo Levis Ist das ein Mensch, Jorge Sempruns Was für ein schöner Sonntag! oder Tadeusz Borowskis Bei uns in Ausschwitz heranziehen – sind ein einmaliges Dokument der Aufrichtigkeit – vor sich selbst und vor dem Leser. Die auf sechs Zyklen aufgeteilten Erzählungen aus einer unberechenbaren Welt sind das Produkt einer schonungslosen Selbstbefragung, der sich Schalamow nach fast 18 Jahren Gulag im »Hohen Norden« unentwegt ausgesetzt hat. Was er in Gefangenschaft durchlebt und erlebt hat, wurde zum Ausgangspunkt einer realistischen Prosa, wie sie eindringlicher nicht sein kann. Seine Erzählungen sind durchkomponiert zu einem großen Ganzen, einem einmaligen Stück Literatur, in der er vom Leben vor, im und nach dem Lager Zeugnis ablegt und nach der Bedeutung des Menschseins fragt.
Warlam Schalamow wurde 1907 im nordrussischen Wologda als Sohn eines orthodoxen Priesters geboren, begann 1924 ein Jurastudium in Moskau und wurde 1929 wegen »konterrevolutionärer Agitation und Organisation« (der berüchtigte Art. 58) zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt. Im Jahr der großen Säuberung 1937 wird er ein zweites Mal als Konterrevolutionär verurteilt. Es beginnt eine Odyssee durch die Lager in der Kolyma-Region im Nordosten Sibiriens, eines der lebensfeindlichsten Gebiete in der ehemaligen Sowjetunion. Erst 1956 durfte er nach Moskau zurückkehren und arbeitete fortan als Journalist und Autor. Schalamows Werke blieben in der Sowjetunion bis in die 80er Jahre verboten, einzelne Erzählungen kursierten aber bereits seit den 60ern im Untergrund. Von dort gelangten sie nach Westeuropa, wo sie durchaus geschätzt und dennoch unterschätzt wurden. Erst jetzt, 30 Jahre nach seinem Tod, erfährt Schalamows Werk die Rezeption, die es verdient.
Wie dringt man zur Wahrheit des Lagers durch, ohne sich selbst zu verlieren im persönlichen Leid? »Durch Kürze, Einfachheit und Abtrennen von allem, das man als Literatur bezeichnen könnte. Die Prosa muss schlicht und klar sein«, erklärt Schalamow in der schmalen Schrift Über Prosa, die sich wie ein Leitfaden seines Schreibens liest. Darin schreibt er, was seine Erzählungen in seinen Augen sind (eine »Fotografie der Vernichtungslager«), wovon sie erzählen (dem »Schicksal von Märtyrern, die keine Helden waren, sein konnten und wurden«) und was sie aufzeigen (»neue psychologische Gesetzmäßigkeiten […], Neues im Verhalten des Menschen, der auf die Stufe eines Tieres reduziert ist.«).
Schalamow hatte eine klare Vorstellung, wie seine Erzählungen erscheinen sollen. Der Aufteilung in sechs Zyklen liegt eine durchdachte Komposition zugrunde, ein aufklärerisches Programm, in dem jedes Detail, jeder Ausdruck symbolischen Charakter erhält. Der erste Zyklus Durch den Schnee führt den Leser in die Lagerwelt ein, konfrontiert ihn mit den grausamen Realitäten in der Goldmine, den kaum weniger schrecklichen Ruhezeiten in der Baracke und den lebensfeindlichen Bedingungen bei bis zu minus 60 Grad im »Hohen Norden«. Schalamow macht hier deutlich, wie sich im Lager alle Bindungen auflösen und der Weg von der Gleichheit zur Gleichgültigkeit, von der égalité zur indifférence, immer kürzer wird. Was übrig bleibt, ist »menschliche Grabenschlacke«, die aus den Stollen in die Krankenlager und Leichenhäuser gespült wird.
Bereits der Titel des zweiten Zyklus’ Linkes Ufer weist den Leser darauf hin, wo diese Erzählungen geografisch verortet sind: am linken Ufer des Kolyma-Flusses (rechts sind die Lager), wo man die Kolyma-Bewohner vor oder nach ihrer Gefangenschaft vermutet. Entsprechend erzählt Schalamow hier vom Leben vor und nach dem Lager, von aussichtsreichen Karrieren, Ehen und Biografien und ihrem unausweichlichen Untergang. In kafkaesker Manier macht Schalamow die existenzielle Absurdität des stalinistischen Terrors deutlich, der auf der Basis von lächerlichen Vergehen und falschen Vorwürfen eine ganze Gesellschaft in ihr Unglück stürzt. Im Hintergrund dieser eindringlichen Erzählungen schwebt stets die Frage nach dem Sinn der menschlichen Erfahrung. Wie und vor allem warum soll man das Leben neu lernen, wenn man erlebt hat, wie schnell alle Regeln des humanen Miteinanders hinweggefegt sein können? Diese Frage steht im Mittelpunkt von Schalamows Schreiben.
Der zweite Zyklus stimmt auf Künstler der Schaufel ein, den dritten Zyklus, in dem er der Funktionalität des Systems auf den Grund geht und zeigt, wie sich der Gulag in den Körper des Gefangenen gebrannt hat, wie jedes Körperteil Erinnerungen an das Lagerleben hervorruft. Teil des Systems sind die Ganoven, die im Lager die Fäden in der Hand haben und über Leben und Tod bestimmen.
Ihnen widmet sich Schalamow in seinem vierten Zyklus Skizzen der Verbrecherwelt. Denn nicht Solidarität, sondern das Gesetz der Taiga – »Jeder rettet die eigene Haut« – prägt das Leben im Gulag. Das prosaische Element weicht in diesem, für Schalamow zentralen Zyklus, der historischen Dokumentation. Wenngleich er nie zu den Kriminellen gehörte, will er sie in seine Erzählungen einbinden, weil »man das Lager nicht verstehen kann ohne die Rolle der Ganoven darin.«
An die Stelle des Erzählers tritt hier der Analytiker, der seine Erinnerungen und Beobachtungen in Texte zwingt, die vom Geist der Aufklärung durchdrungen sind. Denn niemand werde als Verbrecher geboren, sondern vom Lager zu einem gemacht. Und wem das »Gift der Ganovenwelt« erst einmal injiziert worden ist, der hat nichts Menschliches mehr an sich. »Jedes Tier wäre vor jenen Handlungen zurückgeschreckt, die die Ganoven mit Leichtigkeit begehen« – und die Schalamow hier Seite für Seite und nüchtern skizziert. Mit diesem Zyklus verurteilt er das heroisierende Verbrecherbild in der russischen Literatur, zu dem die großen russischen Autoren, ob Dostojewski, Tschechow oder Tolstoi, alle beigetragen haben. Sie ließen sich »vom Phosphorglanz der kriminellen Welt hinreißen und betrügen, setzten ihr eine romantische Maske auf und festigten damit beim Leser eine völlig falsche Vorstellung von dieser tückischen, abstoßenden Welt, die nichts Menschliches an sich hat.«
Der fünfte Zyklus Die Aufweckung der Lärche beschreibt Szenen der Rückkehr ins Leben, symbolisiert von einem Lärchenzweig, der aus der Kolyma in die Heimat geschickt wurde und dort in einer Vase zu neuem Leben erwacht und ausschlägt. Es sind Erzählungen der Hoffnung, auf denen der Schatten der Kolyma-Erfahrung liegt, die »Moral des Nordens«, die wie Pest an den Gefangenen klebt.
Im letzten Zyklus Der Handschuh stellt Schalamow schließlich die Frage nach seiner Position des Schreibens. Wo steht der Schriftsteller, was sollen seine Erzählungen leisten? Für ihn ist das eine prinzipielle Frage, was auch daran deutlich wird, dass er hier erstmals einen direkten Vergleich mit Ausschwitz zieht: Der Gulag sei »etwas Schlimmeres« als Ausschwitz, schreibt er. »Natürlich, an der Kolyma gab es keine ‚Kammern‘, hier zog man es vor, durch Frost zu vertilgen«.
Das Grauen, welches aus diesen, ohne jede moralische Wertung geschriebenen Geschichten aufsteigt, zieht den fassungslosen Leser in seinen quälerischen Bann. Die Erzählungen aus Kolyma muten dem Leser zu, sich der Wahrheit des Gulags zu stellen, sich zumindest reflektierend selbst diesem ewigen Eis auszusetzen – wobei die unmenschlichen Temperaturen der sibirischen Steppe nur noch von den zerstörerischen Wirklichkeiten des menschlichen Miteinanders übertroffen werden. Schalamow schrieb an seinem Lebenswerk mehr als 20 Jahre, fast 2.000 Seiten füllen die Erzählungen aus dem Eis. Sie sind Ausdruck des Versuchs, in der literarischen Verarbeitung zahlreicher Einzelschicksale die Fakten neu zu fixieren. Schalamow ist gelungen, das Boris Pasternak’sche Idealbild der Literatur auszufüllen, nämlich »Außergewöhnliches an gewöhnlichen Menschen zu entdecken und darüber mit gewöhnlichen Worten Außergewöhnliches zu sagen.”
Schalamows Ziel war nicht das Zeichnen eines Gesamtbildes, wie dies Alexander Solschenizyn mit seinem Archipel Gulag versuchte, sondern die Kreation eines Panoramas in Fragmenten. Wie die Männer in der erster Erzählung sich einen Weg bahnen, indem sie immer wieder in frischen Schnee treten, berichtet Schalamow in jeder Erzählung von einem weiteren Aspekt des Lagers und gibt so Stück für Stück den Blick auf das Lager frei. Seine erste Erzählung ist somit auch programmatisch zu deuten, wobei deren Kohärenz nicht auf der prosaischen Ebene entsteht, sondern in den Fakten, die ein Gesamtbild erschließen. Die in sechs Zyklen zerschnittene »Fotografie der Vernichtungslager« kann nur zusammensetzen, wer sich der Betrachtung der Einzelteile aussetzt.
Solschenizyn – von Schalamow anfangs für dessen frühe Erzählung Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch bewundert (»Ich habe zwei Nächte nicht geschlafen – ich habe Ihre Erzählung gelesen, noch einmal gelesen, mich zurückerinnert … Die Erzählung ist wie ein Gedicht – alles daran ist vollkommen, alles ist schlüssig.«, 1962) – wird Schalamows große Enttäuschung. »Solschenizyn kennt und versteht das Lager nicht«, schreibt er 1972 an den Schriftsteller Aleksandr Kreminskij. Statt zu berichten, würde er belehren wollen und in der Tolstoj’schen Tradition des religiösen Schreiberlings so fortfahren, als sei nichts gewesen. Der Literatur zuliebe käme es zur »Ästhetisierung des Bösen«, in der »ein Lob auf Stalin« mitschwinge. »Was wir brauchen ist die Arbeit an der russischen Erzählung, an der Auffrischung der russischen Prosa«, schließt er seinen Brief an Kreminskij.
Schalamows Prosa ist Ausdruck dieser »Auffrischung«, wie auch sein Antiroman Wischera belegt. Seine Sprache ist geprägt von einer Intensivierung, Verdichtung und Zuspitzung des zu Erzählenden in der Rekonstruktion des Erlebten. Seine Alltagsbeschreibungen unter dem Eindruck des Lagers gewinnen in ihrer Schlichtheit an Brisanz und Relevanz. Solschenizyn dagegen fehlt in seiner zuweilen spröden Historizität die Schalamow’sche Eindringlichkeit, das von Herzen kommende Verzweifeln, Schimpfen und Fluchen, die körperliche Mattigkeit und die lethargische Gleichgültigkeit des abgestumpften Insassen, ohne welches der Lageralltag unmöglich beschrieben werden kann. Erst mit den Erzählungen aus Kolyma kann man begreifen, dass in diesem »Raum der Willkür, der Unberechenbarkeit« jede Sicherheit nur eine vermeintliche ist und als solche das Vorspiel zu einem neuen Akt am »Pol der Grausamkeit« darstellt. Man bekommt eine Idee vom Ausmaß des Gulags, ahnt wie sehr er den Menschen einnimmt, ein Leben lang. Wie Hannah Arendt macht Schalamow die »Banalität des Bösen« in einem Ausmaß begreifbar, dass sie sich wie eine eiserne Hand um das Herz legt.
An den russischen Lyriker Boris Pasternak schrieb er am 24. Dezember 1952 aus dem sibirischen Exil: »Das, was mich zu Bleistift und Papier greifen lässt, ist stärker als ich.« Für Schalamow war das Niederschreiben seiner Erzählungen einerseits »die Rechtfertigung meines Lebens, des so mühsam und schmerzlich gelebten«, andererseits aber auch das Gefühl einer Verpflichtung gegenüber seiner Generation und der Nachwelt: »Der Mensch muss etwas tun!«
Seine ethische Pflicht als Schriftsteller sah Warlam Schalamow darin, nach Auschwitz, Kolyma und Hiroshima, nach der Erfahrung der »Vernichtung des Menschen mit Hilfe des Staates«, die europäische Tradition des Humanismus mit den Mitteln der Literatur einer grundsätzlichen Überprüfung zu unterziehen. Denn man könne die Menschen nicht mehr mit der trügerischen Hoffnung auf Rettung und Erlösung abspeisen.
»Die Maxime meines Jahrhunderts, meiner persönlichen Existenz und meines ganzen Lebens, der Schluss aus meiner persönlichen Erfahrung, die Regel, die ich mir aus dieser Erfahrung gewonnen habe, lässt sich in wenigen Worten ausdrücken. Als erstes muss man die Ohrfeigen zurückgeben und erst an zweiter Stelle die Almosen. An das Böse sich vor dem Guten erinnern. An alles Gute sich hundert Jahre erinnern, an alles Schlechte – zweihundert. Darin unterscheide ich mich von allen russischen Humanisten des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts.«
Schalamows Literatur – sofern man dieses von aller Ästhetik befreite Schreiben denn überhaupt so nennen möchte – ist eines der beeindruckendsten Zeugnisse eines Lebens, dessen Pflicht in der Erinnerung bestand. Man wird keine Literatur finden, die aufklärerischer und humanistischer das Leben im Gulag beschreibt, als Schalamows Erzählungen. Ob das auch für seine Erinnerungen gilt, kann man nicht nur in dem Band Das vierte Wologda und Erinnerungen nachlesen, sondern auch in dem Abschluss der Werkausgabe Über die Kolyma.
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