Anthologie, Philosophie, Sachbuch

»Der Begriff ‚unmöglich’ ist abgeschafft«

Der Philosoph Jürgen Goldstein erzählt in seiner Anthologie »Entdeckung der Natur« von großen Welterforschern und ihrer sich wandelnden Wahrnehmung des Natürlichen, an deren Ende eine Philosophie steht, die man Weltanschauung nennen muss.

Das hemmungslose Anschauen der Natur sei Zeitverschwendung, denn das Weltspektakel sei nichts gegen die unermessliche Größe der Seele. Dieses Anschauungsverbot von Kirchenvater Augustinus von Hippo wird noch lange in den Köpfen der Menschen sein, bevor sich die ersten mutig in die Welt aufmachen. Der Philosophieprofessor Jürgen Goldstein erzählt in seiner Erfahrungsgeschichte Die Entdeckung der Natur famos von den Entdeckungsreisen großer Schriftsteller und Forscher und zeigt zugleich den Wandel der Betrachtung der Welt zur Welt-Anschauung.

Grundbedingung der sich wandelnden Sicht auf die Dinge war das unbestimmte »Streben nach dem Fernen und Ungewissen«, der Wunsch, sich »aus einer alltäglichen gemeinen Natur … in eine Wunderwelt zu versetzen«, wie Alexander Humboldt schrieb. Diese vorgestellte und zu suchende Wunderwelt ist der Gegenentwurf zur »überhitzten Zivilisation« (Jean-Henri Fabre), vor der es zu flüchten galt.

Bis ins Mittelalter hinein wirkte Augustinus’ Naturskepsis. Das Wort gilt im Christentum schon immer mehr als das Bildnis. Und was ist das natürliche Panorama, wenn nicht ein Bild. Kolumbus’ beschrieb die Neue Welt, die er 1492 entdeckte, mit den Klischees und Vorstellungen, die er aus Büchern kannte. Er sah, was er sehen sollte und wollte. Ein Eintauchen in die sich dem Auge präsentierende Wirklichkeit ist erstmals in Maria Merians Abhandlung über die Verwandlung der Insekten auf Surinam zu erkennen. 1699 reiste sie in den südamerikanischen Staat und entdeckte, die Insekten unter die Lupe haltend, die verborgene Schönheit der Natur. Merian hielt ihre Eindrücke in bemerkenswerten Zeichnungen fest. Viele Natur-Entdecker nach ihr sollten diese visuelle Dokumentation nachahmen, weil sie ein adäquates Repräsentieren des Gesehenen erlaubt. Jean-Henri Fabre sollte dies perfektionieren.

Bei Georg Forster führten die »Wunder des objektiven Daseyns«, von denen er in seinen Reisetagebüchern aus Tahiti berichtete, zur Emanzipation von der christlich-kolonialistischen Gedankenwelt des alten Europas. Sein Staunen über die »ursprüngliche Güte des Menschen«, die er auch bei den Menschen in der Südsee beobachtete, führte ihn zum Nachdenken über die Unantastbarkeit der menschlichen Würde. In seinen Schriften  verurteilte er die europäischen Eroberer, die in kultureller Anmaßung die unbekannten Völker »nicht als ihre Brüder, sondern als unvernünftige Thiere« behandelt hätten.

Jürgen Goldstein
Jürgen Goldstein: Die Entdeckung der Natur. Matthes & Seitz Berlin 2013. 310 Seiten, 38,- Euro. Hier bestellen

Nur wenige aber haben durch ihre Naturentdeckungen die Welt-Anschauung derart beeinflusst, wie Alexander von Humboldt und Charles Darwin. Humboldt löste sich auf seinen Reisen von der damaligen Perspektive eines gottgemachten Kosmos, in dessen Mitte der Mensch steht. In seiner »lebendigen Natur« ist der Mensch nichts. Die Natur steht für sich, für sie »ist nichts zu groß«.

Mit Charles Darwin begann die Natur zu sprechen. Seine Welt-Anschauung und -Durchdringung, die Grundlage seiner Theorie der Abstammung der Arten ist, geht über Humboldts »Vermessung der Welt« weit hinaus. Darwin will die Natur nicht nur erfassen und kartografieren, als Geologe will er ihre Entstehung verstehen. Überall fand er nach »Zeichen jenes endlosen Kreislaufs der Veränderungen«, der der Evolutionstheorie seinen Stempel aufdrückt. Sein entwicklungsgeschichtlicher Blick auf die Welt ist bis heute einer der größten Einschnitte der Betrachtung der Welt, von Goldstein treffend als die »kopernikanischen Wende der Anschauung unter dem Aspekt der Zeit« bezeichnet.

Andere bewältigten in der bewussten Entdeckung der Natur ihre Traumata und Ängste. Johann Wolfgang von Goethe verarbeitete in seiner Besteigung des Brocken den Verlust seiner geliebten Schwester. Georg Christoph Lichtenberg machte seine Entdeckungsreisen zu einem Akt der Selbstbestimmung, einer Erhebung des Geistes über den gezeichneten Körper (»Ich glaube, der Mensch ist am Ende ein so freies Wesen, daß ihm das Recht zu sein was er glaubt zu sein nicht streitig gemacht werden kann«). Und François-René de Chateaubriand wurde sich beim Anblick der Naturgewalten seiner eigenen Sterblichkeit bewusst.

Jürgen Goldstein feiert die Historie der Naturerkundung,-eroberung und -betrachtung, indem er die Entdecker selbst sprechen lässt und mit uns über deren Mut und Pioniergeist staunt. Die versammelten Berichte zeugen keineswegs nur von Triumphzügen und großen Entdeckungen, sondern erzählen auch von den Entbehrungen, Rück- und Tiefschlägen der Weltenforscher. Die beschwerliche Polarreise von Fridtjof Nansen 1895 scheiterte im Eismeer kurz vor dem Nordpol, Edward Whymper verlor 30 Jahre zuvor im Moment seines Triumphs über das Matterhorn seine Begleiter am Berg.

Das Gemeinsame der hier vorgestellten Entdeckungsreisen und ihrer Zeugnisse liegt in der Anmaßung, alle Theorie und alles Vorwissen zur Welt der eigenen Beobachtungen unterzuordnen und zunächst nur dem zu vertrauen, was sich dem Auge bot. »Logisches Denken ist ein fataler Fehler während der Beobachtung, aber ebenso notwendig vorher wie nützlich danach«, lautete Darwins Grundrezept der reinen Welt-Anschauung. Das Credo »Der Begriff ‚unmöglich’ ist abgeschafft« sollte Generationen bis in die Gegenwart prägen.

Zugleich verstellen jedoch die verschiedenen Weltbilder selbst den freien Blick auf die Natur. Paul Cézanne wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts sagen, dass der Mensch die Natur nicht mehr sehen würde, sondern immer wieder nur die Bilder, die er sich von ihr gemacht habe. Einige Jahre später ging der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss noch weiter, indem er sagte dass wir alles wüssten, aber nichts mehr sehen würden, und Peter Handke sieht die Naturbetrachtung 1979 gar ganz am Ende: »es gibt keine Anschauungen mehr«. Ein Jahr später erklimmt Reinhold Messner im Alleingang den Mount Everest und trägt zu einem Umstand bei, den er später selbst beklagt: »Nichts ist übriggeblieben… Auf der Suche nach dem Unbekannten ist fast alles verlorengegangen.«