Literatur, Roman

Der Kampf gegen die Wildnis

Der amerikanische Romancier T.C. Boyle verarbeitet in seinen Romanen »Wenn das Schlachten vorbei ist« und »San Miguel« die Sehnsucht des Menschen, sich die Welt Untertan zu machen. Dabei erzählt er die Geschichte des epochalen Wandels der Bedrohung des Menschen durch die Natur zur Bedrohung der Natur durch den Menschen.

T.C. Boyle hat seit jeher eine Leidenschaft für Pioniere und Wegbereiter. In seinem Debütroman Wassermusik, seit den 1980er Jahren Teil des Kanons der Kultlektüren, lässt er den britischen Forscher Mungo Park am Niger scheitern (im nächsten Frühjahr erscheint der Roman in einer neuen Übersetzung). Die außergewöhnliche Geschichte des amerikanischen Sexualforschers Alfred Charles Kinsey erzählt er famos in seinem Roman Dr. Sex, und vom wechselhaften Leben des amerikanischen Stararchitekten Frank Lloyd Wright lässt er dessen verschiedene Frauen berichten.

Zugleich zeigt sich Boyle immer wieder fasziniert von gesellschaftlichen Zuständen, Stimmungen und Strömungen. Den Wandel des und das Zweifeln am amerikanischen Lifestyle hat er immer wieder in seinen präzisen, auf den Punkt geschrieben Kurzgeschichten, aber auch in Romanen wie Grün ist die Hoffnung und Drop City (Stichwort: alternatives Leben) oder América sowie Der Samurai von Savannah (Stichwort: Einwanderung und Identität) thematisiert.

Mit Wenn das Schlachten vorbei ist und San Miguel hat Boyle nun zwei Romane geschrieben, in denen er seine Neigung zum historischen Pionierroman und zum Gesellschaftsroman verbindet. San Miguel ist einmal mehr ein Roman über einen vergessenen Teil der amerikanischen Gesellschaftsgeschichte, in Wenn das Schlachten vorbei ist werden hingegen die sehr gegenwärtigen Auseinandersetzungen in Sachen Umweltschutz in den USA thematisiert. Wenngleich zwischen der erzählten Zeit beider Romane mindestens ein halbes Jahrhundert liegt, bilden sie eine symbiotische Verbindung, die man am besten mit der von zweieiigen Zwillingen vergleichen könnte. Die Geschichte, die in ihnen steckt, zeugt von ihrer inhaltlichen Artverwandtschaft, der unterschiedliche Stil spricht für die Individualität dieses ungleichen Geschwisterpaars. Beide Romane spielen auf den nördlichen der so genannten Kanalinseln vor Kaliforniens Küste, also vor der Haustür des amerikanischen Autors.

In Wenn das Schlachten vorbei ist erzählt Boyle von dem erbitterten Kampf zwischen Tradition und Fortschritt, Dogma und Erkenntnis, Naturalismus und Renaturalisierung. Im Zentrum steht die abgrundtiefe Feindschaft zwischen der Wissenschaftlerin Alma Boyd Takesue und dem Naturschützer Dave LaJoy. Beide trennt ihre Haltung zu den Ratten und Schafen, die vor Jahrhunderten (dazu dann mehr in San Miguel) auf den Kanalinseln eingeschleppt wurden und seither den Biokreislauf der Inseln gehörig durcheinandergebracht haben. Denn sie haben sich in einem jahrzehntelangen darwinschen Kampf der Kreaturen als die stärkeren Exemplare durchgesetzt und so manch seltene Spezies aus ihrer ökologischen Nische verdrängt.

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T.C. Boyle: Wenn das Schlachten vorbei ist. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser-Verlag 2012. 464 Seiten. 22,90 Euro. Hier bestellen

Noch ist es aber nicht zu spät, um auf Anacapa die Lummenalke zu retten, deren Eier zu den Lieblingsmahlzeiten der Ratten gehören. Auch die endgültige Auslöschung von »Hornklee, Mädchenaugen und Fetthennen, Malven und Stachelbeeren, Manzanita und Gauklerblumen, Glanzmispeln und Bergmahagoni«, die von den Schafen auf Santa Cruz und Santa Barbara vor der Blüte abgefressen werden, was den beständigen Rückgang »der Dickkopffalter und Schnaken, der Laubheuschrecken und Wurmsalamander« beschleunigt, könnte man noch aufhalten. Was es dazu braucht, ist ein effektives und überaus gründliches Eingreifen in das – nicht mehr ursprüngliche – Ökosystem der Inseln. Hier kommt Alma Takesue ins Spiel, die als Wissenschaftlerin den Auftrag bekommt, »im Dienst einer höheren Sache, für Wiederherstellung, Wiedergutmachung, Erlösung« die »Galápagos-Inseln Nordamerikas« von den Parasitentieren zu befreien. Die Bedingungen scheinen ideal, die Inseln vor Kaliforniens Küste sind unbewohnt und kaum von Interesse. Das Schlachten, von dem im Titel des Buches geredet wird, ist von ihr wohlorganisiert. Das soll zu einem Wiederherstellen der ursprünglichen Inselwelten führen – was natürlich die Frage aufwirft, welcher Zustand noch als natürlich bezeichnet werden kann; der vor einhundert Jahren oder der, der das Resultat einer jahrhundertelangen Entwicklung ist?

Für einige Umweltschützer steht die Antwort fest. Sie haben etwas gegen den Einsatz der »Ökopolizei« auf den Inseln. Angeführt werden sie von Dave LaJoy, seines Zeichens Tierliebhaber und Menschenhasser. Er ist die Speerspitze einer kleinen Gruppe, die sich den Renaturalisierungsplänen der Regierung widersetzt. Wer meint, dass es Lesern kaum zu vermitteln ist, warum Naturschützer gegen die Wiederherstellung von Ökosystemen wettern könnten, der kennt Boyles erzählerische Größe nicht. Wie immer bleibt er trotz aller grundsätzlichen Fragen bei den Menschen. Die Motive dieses Widerstands sind weniger rational, als vielmehr emotional. Die Sympathien des aufwiegelnden Misanthropen Dave LaJoy gehören ganz den Wesen, »die gar keine Wahl haben – den Schweinen, die mit Elektroschocks zur Schlachtbank getrieben werden, den Hühnern, die am Fließband zerlegt werden, obwohl sie noch halb am Leben und bei Bewusstsein sind, den Kaninchen und Eseln und Schafen, die der Park Service auf Santa Barbara, San Miguel und Santa Cruz hat abschlachten lassen, ohne mit der Wimper zu zucken.«

In dieser Passage wird nicht nur die Kritik des überzeugten Vegetariers Boyle an der industriellen Fleischproduktion deutlich, sondern auch Adornos Leitsatz, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe. Es sind diese kleinen Charakterbeschreibungen, mit denen Boyle seine Figuren umreißt und sie gesellschaftlich und moralisch einordnet. Töten für einen guten Zweck ist in LaJoys Augen ein Widerspruch in sich und damit nicht hinzunehmen.

Vom Erzählstil erinnert Wenn das Schlachten vorbei ist an Boyles Dokument einer illegalen Grenzüberschreitung, den Roman América. Im ständigen Perspektivenwechsel lässt er uns die Geschehnisse und deren Vorgeschichten erst aus Alma Takesues Sicht und dann wieder aus Dave LaJoys Blickwinkel beobachten. Dies führt nicht nur perspektivisch zu einer Konfrontation der Figuren, sondern spitzt den Konflikt auch erzähltechnisch zu. So schwingt sich dieser Roman in einer ständigen Aufwärtsspirale empor, bis er zu fliegen beginnt. Eingeschoben sind historische Rückblicke in die Zeit der ersten Besiedlung der Inseln, um einerseits einen erzählerischen Clou, den zu entdecken jeder Leser selbst das Vergnügen haben sollte, herauszuarbeiten, und um andererseits eine große Klammer um die Geschichte des Wandels von der Bedrohung des Menschen durch die Natur zur Bedrohung der Natur durch den Menschen zu schließen. Das Ganze endet – auch hier die Ähnlichkeit zu América – in einer nicht zu vermeidenden Katastrophe.

Wenn das Schlachten vorbei ist ist keine moralinsaure Parabel über das Zusammenleben von Mensch und Tier, sondern eine höchst unterhaltsame Parodie (mit Anlehnung an das Genre des Thrillers) auf die Planungswut des Menschen, der immer alles zu kontrollieren und zu beherrschen meint. Es ist eine falsche Annahme, dass der Mensch die Dinge vollständig im Griff hätte. Nicht ein höheres Wesen, aber die spontanen Nebenwirkungen der Konsequenzen menschlichen Handelns lassen den Weltenlauf viel variabler sein, als Mensch dies immer wieder plant.

T.C. Boyle: San Miguel. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser-Verlag 2013. 448 Seiten. 22,90 Euro. Hier bestellen

Mit dieser Feststellung ist das Thema von Boyles zweitem Kanalinsel-Roman San Miguel, in dem sich Boyles Bewunderung für Pioniertaten spiegelt, umrissen. Er erzählt darin von der Besiedlung und Urbarmachung der nordwestlichsten der Kanalinseln, die von den eingeschifften Schafen bis auf den letzten Grashalm abgefressen ist. Das insulare Ökosystem ist schon Mitte des 19. Jahrhunderts kurz vor dem Kollaps, die Insel droht im eigenen Matsch zu versinken. Eine Situation, die sich für einen weiteren Öko-Roman anbieten würde, doch Boyle verfolgt hier ein historisches Konzept. Er erzählt authentisch und detailreich von den Entbehrungen und Mühen der ersten Inselpioniere, der Unwirtlichkeit und Widerspenstigkeit des Geländes, der lebensfeindlichen Witterung und Einfachheit allen Daseins, aber auch von den Verlockungen der Wildnis, der Faszination des puren, rohen Lebens abseits der kriegerischen »Zivilisation« auf dem Festland.

Die Technik, die er in diesem drei Generationen in drei Teilen überspannenden Werk verwendet, ist Boyle-Fans aus seinem Porträt des Stararchitekten Frank Llyod Wright  bekannt. Der Roman – der auf Aufzeichnungen basiert, auf die Boyle während der Recherchen zu Wenn das Schlachten vorbei ist gestoßen ist – wird, wie das Leben des Architekten, aus der Perspektive von drei Frauen erzählt. Die erste ist die an Schwindsucht erkrankte Marantha, die mit ihrem zweiten Mann Will, einem versehrten Bürgerkriegsveteran, in der Hoffnung auf der Insel flieht, sie könnten als Verwalter einer Schafranch noch einmal von vorn anfangen. Ihre Tochter Edith nehmen sie mit, sehr zu deren Leidwesen, weshalb diese im zweiten Teil des Buches – einer Art Intermezzo mit Außenperspektive – von der Insel flieht. Im dritten Teil steht die junge Elise im Mittelpunkt des Geschehens, die tatenfroh und entschlossen gemeinsam mit ihrem frisch angetrauten Gatten Herbie der Großen Depression auf der Insel aus dem Weg gehen will.

Die Voraussetzungen, unter der die drei Frauen auf die Insel kommen, könnten unterschiedlicher nicht sein. Sie prägen den jeweiligen Blick auf das karge Leben in der menschabgewandten Einöde einer luftdurchlässigen Holzhütte, die weder Nässe noch den feinen Sand der Insel außerhalb ihrer Wände zu halten vermag. Maranthas Hoffnung, auf dieser Insel zur Ruhe und zur Gesundheit zu kommen, ist schnell zerschlagen angesichts der Bedingungen, unter denen sie zu leben gezwungen ist. »Alles war schlammverschmiert, und die Wände verströmten einen Geruch von Schimmel und Fäulnis und einer penetranten Feuchtigkeit, die kein Ofen je würde vertreiben können.« Und entsprechende Folgewirkungen hat dieses unkomfortable Leben für ihre Gesundheit: Sie spürte, »wie Mattigkeit sich in ihre Glieder schlich und ihre Lunge zusammengepresst und gewrungen wurde wie ein alter Putzlappen«. Das Wissen um die eigene Misere – Marantha fühlt sich »wie eine Zigeunerin in einem Wohnwagen« – treibt sie in einen emotionalen Abwärtsstrudel, der sie erst ihre Tochter aus den Augen und dann ihren (ständig um die Bedürfnisse der Schafherde besorgten) Mann aus dem Herzen verlieren lässt: »Er hatte keine Ahnung, wie sie sich fühlte, keiner von ihnen hatte eine Ahnung. Sie waren gesund, sie würden weiterleben – sie nicht. Alles, was sie sahen, war erfüllt von den Farben des Lebens, war bunt und glänzend, während für sie alles trostlos war.« So trostlos, dass sie schließlich in den Tod stürzt.

Die Flucht ihrer Tochter Edith von der Insel ist die notwendige Konsequenz eines kulturellen Verhungerns inmitten der von den Schafen abgegrasten Inselhänge, in der nicht einmal der gleichaltrige Schäfersgehilfe für Abwechslung sorgen kann. »Seine Hände waren aus Stein.« Sie muss nach ihrer heimlichen Landflucht noch einmal zurückkehren, eingefangen vom kühlen und emotionsarmen Stiefvater, für den die Zähmung der Widerspenstigen eine Frage der Ehre ist. Wenngleich die Rückholung von Edith nicht von langer Dauer ist, beschreibt Boyle hier eindrucksvoll nicht nur die Differenzen im ungleichen Machtkampf der Geschlechter, sondern auch die Schwierigkeiten, Ende des 19. Jahrhunderts heimlich von einer Insel zu entkommen.

Mit Elise und Herbie Lester trifft Jahre später, nach dem Ableben von Will, ein Paar auf San Miguel ein, das in dem insularen Exil seine Chance wittert, der Weltwirtschaftskrise zu entkommen. Waren Marantha und Will eine Schicksals- und Notgemeinschaft, sind Elise und Herbie eine Wahlgemeinschaft, die ihr Glück sucht. Vielleicht lässt Boyle sie deshalb mit ihren Kosenamen und nicht mit ihren schroff klingenden Klarnamen Elizabeth und Herbert auftreten. Die ersten Eindrücke der Insel sind bei Elise nicht wesentlich positiver als bei Marantha: es roch »feucht und urtümlich«, »das Haus war kalt und dunkel«, die Wände »fühlten sich feucht an«. Aber ihre Hoffnung, hier in glücklicher Zweisamkeit verschont zu bleiben von der Bedrohung, die die am Rande des Abgrunds taumelnde Welt ausstrahlt, ist stärker als die Reize der Zivilisation, die noch Marantha und vor allem Edith am selben Ort haben verkümmern lassen.

Boyle schreibt in diesem Kapitel fast spielerisch die Weltgeschichte zwischen 1929 und 1941, die im Angriff der Japaner auf Pearl Harbor gipfelt, aus der Perspektive der Exilierten um. Das ist in seiner Leichtigkeit und Beiläufigkeit ebenso frech wie grandios und entschädigt für einige Passagen in diesem Roman, die sich in den immer gleichen Wiederholungen der Ödnis der Insel verlieren. San Miguel beginnt im Gegensatz zu seinem ungleichen Romanzwilling nicht zu schweben, sondern bleibt leider im fauligen Matsch dieser kaputten Natur stecken. Am Ende wird sich Elises Hoffnung, in der Abgeschiedenheit Sicherheit und Liebe bewahren zu können, als trügerisch herausstellen. Denn auch sie hat das Leben nicht im Griff. Die kultivierte Lebensart, die sie anfangs mit Herbie durch die Pflege des französischen Dialogs zu bewahren sucht, bricht in der Härte des Alltags Stück für Stück zusammen.

T.C. Boyle hat mit seinen Kanalinsel-Geschichten zwei Romane geschrieben, die jeder auf seine Weise davon erzählen, dass der Mensch zwar vieles planen und bestimmen kann, doch am Ende nichts völlig in der Hand hat. So kann man schließlich beide Romane als dystopisches Mosaik des Fortschritts lesen. Gesellschaftliche Weiterentwicklung geht nicht zwangsweise in die Richtung eines menschlicheren Zusammenlebens, sondern kann auch ins Verderben führen.

2 Kommentare

  1. […] T. C. Boyle, der mit Die Terranauten gerade an einem Roman über den Menschen in einer künstlichen Umgebung schreibt, wo die Abhängigkeit und Wirkung des Menschen von und auf seine Lebensumwelt isoliert beobachtet werden kann, zeigte sich von Das sechste Sterben schwer beeindruckt. »Elizabeth Kolbert beschreibt mit schmerzlicher Schönheit die Auswirkungen, die unsere Spezies auf alle anderen Lebensformen in unserem riesigen Universum hat. Ihr Buch lässt einem einen kalten Schauer über den Rücken laufen und ist gleichzeitig absolut notwendig.« Dem ist nur eines hinzuzufügen: Kolberts Arbeit sollte zur Schulpflichtlektüre ausgewählt werden! […]

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