Film

Die Gesichter des Erwachsenwerdens

Die Norwegerin Jannicke Systad Jacobsen erzählt in ihrem brillanten Debütfilm »Turn me on« atmosphärisch und sensibel vom Zauber und der Qual der Identitätssuche junger Menschen.

Was macht man als fünfzehnjährige in der Provinz, wenn die Welt lockt? Man kann durchdrehen und über die Strenge schlagen, um wenigstens das bisschen Welt vor der Haustür zu genießen. Wenn dann aber noch die Hormone verrückt spielen und die Lust an die Oberfläche dringt, dann wird die kleine Welt zu einem Gefängnis.

Die norwegische Regisseurin Jannicke Systad Jacobsen erzählt in ihrem preisgekrönten Erstlingsfilm Turn me on einfühlsam und sensibel vom Leben in diesem Gefängnis – aus der Perspektive der fünfzehnjährigen Alma. Der Film wurde beim zehnten Tribeca Film Festival 2011 für das Beste Drehbuch ausgezeichnet, gewann im selben Jahr beim Internationalen Filmfestival in Rom den Preis der unabhängigen Filmverleiher für den besten Debütfilm und im Jahr darauf im belgischen Mons den Preis für das beste Europäischen Debüt.

Almas Zuhause ist das norwegische Provinzkaff Skoddeheimen, dass sie aus dem Schulbus mit dem Stinkefinger morgens verabschiedet und am Nachmittag begrüßt. Berge, eine einsame Straße, ein Haus mit Satellitenschüssel und dumme Schafe – mit dieser Beschreibung ist auch schon alles über das Dorf gesagt.

Alma befriedigt sich selbst mit Telefonsex | © 2012 - New Yorker Films
Alma befriedigt sich selbst mit Telefonsex | © 2012 – New Yorker Films

Ein Drama, dass Alma – eindrucksvoll gespielt von der 21-jährigen Entdeckung Helene Bergsholm – ausgerechnet in dieser Einöde nicht die schüchterne Blonde, sondern die lüsterne Lolita gibt. Sie will unbedingt ihre Sexualität entdecken, entwickelt in ihrer Lust eine um sich greifende Phantasie und greift in der Not zum Telefonhörer, um dem inneren Druck mit Hotline-Telefonsex ein Ventil zu geben. Ihre alleinstehende Mutter (Henriette Steenstrup) verliert zunehmend den Kontakt zu ihr.

Auf einer Party kommt Alma ihrem Klassenkameraden, dem Mädchenschwarm Artur (Mathias Myren), näher  und es kommt zu einem peinlichen Zwischenfall. Doch statt diesen für sich zu behalten, erzählt sie davon ihren Freundinnen, die das Geschehene gegen Alma wenden. So wird der Liebestraum zum Albtraum und Alma zum Gespött des Dorfes.

Bonjour Tristesse heißt es für Alma, Sara und Ingrid | © 2012 - New Yorker Films
Bonjour Tristesse heißt es für Alma, Sara und Ingrid | © 2012 – New Yorker Films

Turn me on“ ist ein klassischer Coming-of-Age-Film im Stil des skandinavischen Arthauskinos. In atmosphärisch tiefen Bildern und fotografischen Erinnerungs- beziehungsweise Phantasieblenden erzählt Jacobsen von den alltäglichen Katastrophen der Adoleszenz; von den sprießenden Knospen der ersten körperlichen Liebe, dem Drängen der Sexualität, von der vermeintlichen Coolness des Erwachsenwerdens und den pubertären Grabenkämpfen zwischen Naivität und Mobbing.

Dabei konzentriert sie sich nicht nur auf Alma und ihre Geschichte, sondern erzählt in verschiedenen Seitensträngen von der Verschiedenartigkeit des Erwachsenwerdens. Almas beste Freundin Sara (Malin Bjerhovde) – zweifellos die soziale Heldin des Films – etwa macht sich wenig aus Jungs und Liebe, sondern träumt davon, eines Tages nach Texas zu gehen, um dort gegen die Todesstrafe zu demonstrieren. Kjartan (Lars Nortcedt Listau) ertränkt seine Sehnsucht nach der Welt in Haschisch, bis er mit Sara eine Genossin im Geiste gefunden hat. Ingrid, eine von Saras zwei Schwestern, hat die Rolle der Barbie-Queen und Kontrahentin im Buhlen um Arturs Gunst. Sie gibt die intrigante Dorfschönheit, die Alma vor allen bloß stellt, um im Kampf um Artur die Nase vorn zu haben. Sie ist diejenige, die die meiste Schminke aufträgt und zugleich die geringste Idee von dem hat, was ein erfülltes Leben sein könnte.

Man merkt Jacobsens erstem Spielfilm kaum an, dass die Norwegerin zuvor ausschließlich Dokumentarfilme gedreht hat – der Film profitiert davon enorm. Wie eine Ethnologin beobachtet sie ihre Protagonistinnen und lässt ihren Entwicklungen Zeit und Raum. Zuweilen erinnert Turn me on hier an den deutschen Dokumentarfilm Prinzessinnenbad. Zweifelsohne waren Jacobsen ihre Erfahrungen mit nicht-professionellen Schauspielern nützlich. Die Jugendlichen werden fast ausnahmslos von Laienschauspielern gespielt, die Jacobsen vor Ort gecastet hat. Dass sie in den zum Teil sensiblen Szenen nichts an ihrer Natürlichkeit vermissen lassen, ist sicher auf Jacobsens sensible Vermittlung zurückzuführen. Vor allem Helene Borgsholm und Malin Bjerhovde überzeugen mit ihrer Ausstrahlung und Tiefe. Möglicherweise standen sie nicht das letzte Mal vor der Kamera.

Der Alltag der hier porträtierten Jugendlichen ist nahezu empörend normal, als dass man daraus einen Film machen kann. Dass Jacobsen es dennoch gemacht hat, ist ein Glück, dem man sich nicht mehr entziehen mag.

Turn me on (Alternativtitel: Mach’ mich an, verdammt nochmal!). 76 Min.