Gesellschaft, Philosophie, Sachbuch

Wir leben in einer facialen Gesellschaft

Der Kunsthistoriker Hans Belting legt mit seiner Geschichte des Gesichts »Faces« eine beeindruckende Studie über die soziale und kulturelle Praxis der facialen Reproduktion und Maskerade vor, in der er einen Bogen von den antiken Masken bis hin zum digitalen Abbild schlägt.

Hans Belting ist einer der maßgeblichen Kunsthistoriker des deutschsprachigen Raumes. Es gibt wohl keinen Studenten der Kunstgeschichte, der sich nicht irgendwann mit Bild und Kult, der 1990 erschienenen, mittlerweile zum kunsthistorischen Standard gehörenden Abhandlung über die Bildverehrung im europäischen Mittelalter auseinandersetzen muss. In diesem Frühjahr ist seine Geschichte des Gesichts erschienen. Irritiert möchte an fragen, ob man richtig verstanden habe, aber ja, es geht Belting in seinem neuen Werk Faces – Eine Geschichte des Gesichts, an dem er zehn Jahre lang gearbeitet hat, um den »gesellschaftlichen Teil von uns«, wie es Hanns Zischler einmal in einem Interview formulierte.

Welche Wirkung Gesichter haben, machte Alfred Döblin in seinem Vorwort zu August Sanders bemerkenswerter Porträtsammlung Antlitz der Zeit deutlich. »Wie man Soziologie schreibt ohne zu schreiben, sondern indem man Bilder gibt, Bilder von Gesichtern und nicht etwa Trachten, das schafft der Blick dieses Fotografen, sein Geist, seine Beobachtung, sein Wissen und nicht zuletzt sein enormes fotografisches Können«, jubilierte Alfred Döblin Ende der 1920er Jahre in seinem Vorwort zu Sanders Fotoband. Im Stile der Neuen Sachlichkeit hatte Sander ebenso physiognomische wie ikonische Porträts geschaffen, die er anhand von Mustern schichtspezifischer und berufstypischer Physiognomien, Haltungen, Mimiken und Gesten bei den einzelnen Personen in sieben Kategorien eingeteilt hat. Lobende Worte fand nicht nur Döblin, sondern auch Walter Benjamin, der Sanders Fotokompendium in seiner aufklärerischen Wirkung lobte. Zugleich aber gab Benjamin den »sortierenden Blick« Sanders zu Bedenken, der solchen Werken quasi über Nacht »eine unerwartete Aktualität« zuwachsen lassen könne. »Machtverschiebungen, wie sie bei uns fällig geworden sind, pflegen die Ausbildung, Schärfung der physiognomischen Auffassung zur vitalen Notwendigkeit werden zu lassen«, warnte er mit Blick auf den wachsenden politischen Einfluss der Nationalsozialisten. Karl Jaspers ging noch weiter und kritisierte die »anthropologische Obsession« der zeitgenössischen Bildnisse als eine in Wahrheit ideologische Absichten verfolgende Typisierung.

In der Diskussion um die soziotypische Porträtfotografie der Weimarer Zeit zitiert Belting die Kritik der »maskenhaften Vordergründigkeit des Photographiergesichts«. Sanders Fotoprojekt als eines der heute noch bekanntesten dieser Zeit und die Debatte über dessen grundsätzliche Wirkung spielt in Beltings Geschichte des Gesichts eine wichtige Rolle. Sie bildet quasi im Kleinen die Brücke seines argumentativen Bogens, den er von der Bedeutungsgeschichte der Maske als gleichermaßen kultisches wie ethnisch-koloniales Relikt über das Abbild des Gesichtes in den bildenden Künsten bis hin zu den abgründigen multimedialen Cyberfaces spannt. Dabei beschränkt er sich auf den europäischen Raum, da sich nur so die überbordende Materialfülle in einen Text habe fassen lassen, schreibt er in seinem Vorwort. Dies führt dazu, dass ethnologische Konzepte des Gesichts und vor allem der Abbilder des Gesichts, sprich Masken, allenfalls in einem kolonialen Kontext hier einfließen.

Des Weiteren ist seine Geschichte des Gesichts keineswegs chronologisch angelegt. Vielmehr gibt Belting mit der Dreiteilung seiner Studie einen groben Rahmen vor, der sich am Weltenlauf orientiert, doch in seinen Kapiteln geht er vielmehr assoziativ vor. Dabei folgt er lieber den Spuren, die sein jeweiliger Untersuchungsgegenstand hinterlässt, als dass er in der Geschichte nach ihnen sucht. So denkt er sich quer vom facialen Platzhaltercharakter der Masken zur Maskenhaftigkeit des Gesichts, von der klassischen Porträtmalerei zur Porträtfotografie, von den kulturellen Verwendungen der Maske im Theater zur maskenhaften Inszenierung des Gesichts im Film.

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Hans Belting: Faces – Eine Geschichte des Gesichts. Verlag C. H. Beck 2013. 343 Seiten. 29,95 Euro. Hier bestellen

Das Gesicht als Untersuchungsgegenstand ist ein flüchtiger Geselle. Es altert und wechselt seine Form mit jeder emotionalen Regung. Darüber hinaus ist es individuell und einzigartig. »Es ist eine Rohform des Lebens und also Natur in einer gesellschaftlichen Praxis«, so dass es sich in einer grundsätzlichen Form nur in seiner sozialen und kulturellen Anwendung untersuchen lässt. Belting unternimmt dafür einen Kunstgriff, indem er Maske und Gesicht zunächst als Einheit voraussetzt, um sie dann wieder zu trennen und die Maske als kulturelles Objekt der Abstraktion zu untersuchen. Auf dem Weg von der Antike in die Neuzeit war die Maske erst ein Mittel der Gesichtswiederherstellung, dann eine direkte Kopie und schließlich identitätsverschleierndes Versteck des Gesichts bis sie im Kult der Totenmaske »als Quelle und Wurzel der Darstellung des Menschen« sogar die Hoheit über das Gesicht gewann. Das Dispositiv wurde quasi wichtiger als das Positiv.

An die Stelle der Maske trat – zumindest im von Belting untersuchten europäischen Kontext – das Porträt als »Bild eines Bildes« von uns selbst. Sowohl Porträt als auch Maske stehen in einem doppelten Spannungsfeld, als dass sie als leblose Abbilder von lebenden oder in lebender Erinnerung gebliebenen Menschen zwar nicht an deren Lebendigkeit herankommen, aber in ihrer artefaktischen Eigenschaft erst eine Darstellung im mimetischen Sinne ermöglich. Darüber hinaus stehen sie in einem zeitlichen Diskontinuum, konservieren auf der einen Seite einen Zustand und werden selbst mit der Zeit flüchtig in ihrer Aussagekraft. Sie bleiben starr und in ihrer Starre verliert sich ihre Relevanz – und dennoch werden sie in ihren jeweiligen Hochzeiten als lebensähnlich akzeptiert. Mit Aufkommen des Porträts allerdings verlor alles Maskenähnliche an Akzeptanz, wie Jean Cocteau 1960 in seinem Film Testament des Orpheus gezeigt hat, wo Schauspieler mit künstlichen Augen spielten. Allein der Verlust des Blicks macht das Gesicht zu einem leblosen, maskenhaften Objekt.

In seiner Auseinandersetzung mit Masken und Porträts macht Belting auch immer wieder deutlich, dass die Geschichte des Gesichts schon immer auch eine Geschichte des Menschenbilds gewesen ist. Die nahe Verwandtschaft von Gesicht, Maske und Porträt, die in ihren sozialen und kulturellen Wechselwirkungen auf den ersten 200 Seiten von Beltings faszinierender Studie im Vordergrund stehen, hat Man Ray 1926 in seiner zur Ikone aufgestiegenen surrealistischen Fotografie »Noire et Blanche« eingefangen. Zu sehen ist ein auf die Seite gekipptes, blasses Frauengesicht neben einer aufgestellten schwarzen Maske.

Im abschließenden Teil beleuchtet Belting die Produktion von Gesichtern im Medienzeitalter, die in der »schrankenlosen Produktion« von Gesichtern einen »neuen Gesichtskult begründet«, in dessen Zentrum ein neues, synthetisches Gesicht steht, das keinerlei Bindung mehr an einen lebenden Körper hat. Movens dieser Produktion von Faces ist die Logik von Politik und Werbung, die auf der einen Seite prominente Gesichter und auf der anderen Seite eine anonyme Masse hervorbringen, die den Kontakt zueinander verloren haben. In der Bilderflut der Moderne verschwindet das individuelle Gesicht des einzelnen in der Masse und nur die Inszenierung macht es möglich, einzelne hervorzuheben; zugegebenermaßen mit der Einschränkung, dass es die technischen Möglichkeiten der Videoüberwachung ermöglichen, den Einzelnen aus der Masse bei Bedarf auch wieder herauszufiltern.

Parallel dazu verschwindet das tatsächliche Gesicht und an seine Stelle treten das geschönte oder das verpixelte Porträt, die als »Cyberfaces« die Idee eines Körpers in der transparenten Spektakelgesellschaft vertreten. Dabei rückt das inszenierte Porträt wieder in die Nähe der starren Maske und fungiert dann als Platzhalter für etwas, was nur in der Vorstellung existiert. Science Fiction erreicht das Gesicht, dessen Geschichte damit an ihr Ende gerät, weil Cyberfaces keine Gesichter mehr, sondern nur mehr »interfaces zwischen unendlich vielen Bildern« darstellen. »Im Grunde ist die totale Maske keine Maske mehr, weil da nichts und niemand mehr ist, den sie repräsentiert oder maskiert.«