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»Romane schreiben ist wie Tagträumen«

Der Schweizer Buchautor Peter Stamm eröffnete mit einer von der Literaturkritikerin Insa Wilke moderierten Lesung aus seinem Roman »Nacht ist der Tag« den Berliner Lesemarathon Stadt-Land-Buch.

Als Vor(Alpen)glühen zur Leipziger Buchmesse 2014 bezeichnete die Vorsitzende des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Berlin-Brandenburg Margrit Starick den Schweizer Schwerpunkt, der sich mit zahlreichen Sonderveranstaltungen durch das diesjährige Programm des regionalen Lesemarathons Stadt-Land-Buch zieht. Denn die Schweiz wird im kommenden Jahr das Gastland in Leipzig sein.

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Peter Stamm: Nacht ist der Tag. S. Fischer Verlag 2013. 256 Seiten. 19,99 Euro. Hier bestellen

Der Schweizer Autor Peter Stamm eröffnete am Sonntag im Deutschen Theater Berlin offiziell den Lesemarathon in der Hauptstadt. Er stellte seinen neuen Roman Nacht ist der Tag vor, in dem er einmal mehr eine Geschichte von Menschen in schwierigen Situationen erzählt. Diejenige, die hier schlagartig in eine Krise geschleudert wird, ist Gillian, eine Fernsehmoderatorin Ende dreißig. Zu Beginn des Buches wacht sie nahezu bewegungsunfähig im Krankenhaus auf, ihr Vater wartet am Fuß ihres Bettes. Sie weiß nicht, was geschehen ist und die bruchstückhaften Erinnerungen, die sie anfliegen, helfen ihr kaum weiter. Sie erfährt, dass sie schwerverletzt einen Unfall überlebt hat, bei dem ihr Mann ums Leben kam. Ihr Gesicht wurde bei diesem Unfall komplett zerstört, die Ärzte versprechen ihr, sie bestmöglich „wiederherzustellen“.

Schon auf den ersten Seiten dieses packenden Romans wirft Stamm subtil wesentliche Fragen nach den Zusammenhängen von Gesicht und Identität auf. Wenn Gillian im Spiegel durch das „Loch in ihrem Gesicht“ ihr Inneres erblickt, meint der stets in die Köpfe seiner Protagonisten hineinkriechende Autor Peter Stamm nicht nur den Anblick des offenliegenden Fleisches, sondern auch das Loch in der brachliegenden Seele angesichts der eigenen »Gesichtslosigkeit«. Die Frage der Bedeutung der äußeren Erscheinung zieht sich durch den kompletten Roman, der sich in drei Kapitel teilt – vor allem auch, weil sich der zweite Teil um den Maler und Fotografen Hubert dreht, für den die körperliche Hülle das Medium ist, an dem er sich mit seiner Kunst abarbeitet.

Die Literaturkritikerin Insa Wilke führte mit anregenden Fragen durch die Lesung und entlockte Stamm einige Geheimnisse seines Schreibens. Beispielsweise erfuhren die Besucher der Veranstaltung, dass der Schweizer Erfolgsautor das Thema seines aktuellen Romans schon seit Jahren mit sich herumträgt. Ein erster Roman, der sich den hier aufgeworfenen Fragen schon einmal widmete, ist nie erschienen – »zum Glück«, wie Stamm sagte. Wahrscheinlich ist ihm in dieser ersten Fassung die Kontrolle über sein Personal verloren gegangen, die ohnehin kaum zu kontrollieren seien, wie der Schweizer gestand. Weder über seine Protagonisten noch über seine Gedanken habe er beim Schreiben tatsächlich Kontrolle, weshalb er das Romaneschreiben mit »Tagträumen« verglich.

Cécile Wajsbrot: Über die Literatur. Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer. Matthes & Seitz Berlin 2013. 74 Seiten. 12,80 Euro. Hier bestellen

Peter Stamm, der international zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren zählt und mit seinem Roman auf der diesjährigen Longlist für den Deutschen Buchpreis stand, kritisierte zu guter Letzt die Gegenwartsliteratur. Beim Schreiben gehe es um mehr als um gefällige Literatur. Vieles, was derzeit geschrieben werde, entspreche nicht dem Ideal guter Literatur. Damit schlägt er in eine Kerbe, deren Tiefe in dem lesenswerten Band Über die Literatur von Cécile Wajsbrot vermessen wird. Die französische Essayistin beklagte darin bereits 1999 die Geschichtsvergessenheit und Beliebigkeit der Gegenwartsliteratur, die das Ablösen der Literatur von der Écriture vorantreibt. Das Ergebnis seien Texte, „in denen unheilvolle Intelligenz mit tödlicher Langeweile gepaart ist«. »Ist es nötig zu wiederholen, dass die Literatur keine banale Tätigkeit ist?«, fragt Wajsbrot in ihrem Essay. Peter Stamms Kritik erinnerte an Wajsbrots Worte. Ob die beim Lesemarathon Stadt-Land-Buch präsentierte Gegenwartsliteratur der kritisierten oder der gewünschten Literatur entspricht, verriet er aber nicht.