Literatur, Roman

Don Winslows Py-Roman

Es gibt eine Theorie, der zufolge jeder maximal sechs Handschläge von jeder x-beliebigen Person auf der Welt  entfernt sei. Nur sechsmal guten Tag sagen, und man greift zur Hand des amerikanischen Präsidenten oder des Papstes. Winslows Charaktere geben einem das ungute Gefühl, dass man deutlich weniger Handschläge von der Verbrecherwelt entfernt ist. Zwischen Verbrecherboss, anerkannten Geschäftsmann und handzahmen Familienvater ist oft nur der Vorhang der Nacht, wenn alle Katzen grau sind.

Die Nacht ist Ausgangspunkt von Winslows Roman Die Sprache des Feuers. In dem bereits 1999 in den USA erschienenen Krimi steht der Schadensregulierer für Brandschäden bei »California Fire and Life« Jack Wade im Mittelpunkt. Zuvor war er bei einer Elitetruppe der Polizei, die in Brandfällen ermittelte, ist dort aber unehrenhaft entlassen worden, weil er eine Zeugenaussage erpresst hat. Was ihm geblieben ist, sind sein Auto, ein paar alte Surfbretter und die Abwesenheit eines Privatlebens.

Mit seinem neuen Auftrag, Schadenssummen so gering wie möglich zu halten, kann er sich grundsätzlich arrangieren. Wenn Jack Wade aber eines hasst, dann sind es schlampige Ermittlungen. In einem Schadensfall muss er nun feststellen, dass sein Erzfeind aus dem alten Revier, Brian Bentley, schlampig ermittelt. Denn in dem abgebrannten Haus, für das seine Versicherung nun zahlen soll, stimmt etwas nicht. Neben der Leiche, die man »von den Sprungfedern ihres Bettes kratzen musste«, findet Wade Spuren von Brandbeschleunigern und seltsamerweise wenig Brandmaterial. Und die Tote ist die Schwester seiner ehemaligen Geliebten Letty. Er beginnt, genauer hinzuschauen – und mit jedem Schritt, den er weiter geht, als alle vor ihm, öffnet sich unter ihm der Abgrund etwas mehr.

Allein von Jack Wades Ermittlungen in der ausgebrannten Villa, dem Auffinden und Interpretieren von Brandspuren, dem »Deuten des Feuers« zu lesen, ist ein intellektuelles Vergnügen (mit Sicherheit auch für Feuerprofis). Dabei geht es »nur« um solch profane Dinge wie die Qualität der Brandbeschleuniger, die Menge der Brandlasten, die Beschaffenheit des Brandmaterials, die Höhe der Temperaturen oder die Art der Luftzufuhr. Aber wie Winslows Protagonist davon erzählt, wie er einen Brand zu einem leidenschaftlichen Ereignis macht, ist sensationell.

Don Winslow: Die Sprache des Feuers. Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte. Suhrkamp Verlag 2012. 419 Seiten. 14,99 Euro. Hier bestellen

Auf den ersten Blick hat dieser Roman wenig mit Winslows aus seinem Durchbruchroman Tage der Toten bekannten Themenfeld Mafia-Drogen-Politik zu tun, doch mit dem Öffnen des Abgrunds erhält der Leser einen Panoramablick auf die amerikanische Einwanderungsgesellschaft und den abseitigen Pfaden auf dem Weg, den amerikanischen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Da geraten Gerichtsverhandlungen zur Farce und polizeiliche Anhörungen zur Inszenierung. Politiker kungeln mit Mafiabossen, Polizisten und das FBI mit den Männern aus der zweiten Reihe. Hat man sich auf dieses System als Teil der amerikanischen Realität eingelassen, ist man schnell bei der dunklen Seite der Macht.

Auf dieser Seite steht auch Nicky Wale, der es auf den abseitigen Pfaden geschafft hat, zu Erfolg zu kommen. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks aus Russland in die USA ausgewandert, ist er inzwischen ein angesehener Geschäftsmann. Sogar derart angesehen, dass er sich von den kriminellen Machenschaften seines Kartells, dem er seinen Aufstieg zu verdanken hat, verabschieden möchte. Er braucht die Finanzen aus Schutzgelderpressungen, Drogenhandel und Auftragsmorden nicht mehr. Doch nun plötzlich brennt sein Haus und in ihm seine Frau Pam. Von der hatte er sich zwar ohnehin getrennt, aber wer mag es schon, wenn man einem das eigene Hab und Gut abfackelt.

Wale und Wade – die Nähe der Namen lässt vermuten, dass hier zwei Charaktere aufeinandertreffen, die sich nicht ganz unähnlich sind. Beide haben gelernt, sich anzupassen, durchzuboxen und niemals aufzugeben. Rückschläge kennen zwar beide, nur empfinden sie diese nicht als solche. Jeder Schlag in die Magengrube ist Teil eines darwinschen Überlebensprogramms. Sowohl Wade als auch Wale fühlen sich zu Höherem berufen. Sie haben Kontakte und Einfluss und sind bereit, sich dieser zu bedienen. Um das zu erreichen, was sie wollen, gehen beide bis zum Letzten. Der Versicherungsregulierer Jack Wade und Mafiaboss Nicky Wale könnten ein klasse Team abgeben. Könnten!

In Nicky Wale öffnet sich dem Leser der Winslow’sche Kosmos des Verbrechens, den der russische Mafiaboss zwar unter die Oberfläche zu drücken versucht, doch auch für ihn gilt die Regel, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann.