Literatur, Roman

Die Würde der Zurückgebliebenen

Fabriken, Unternehmen, Projekte – all das wird in der kapitalistischen Moderne abgewickelt. Aber wie wickelt man einen Ort ab, der dem Untergang geweiht ist? Die Hannoveranerin Annika Scheffel hat mit »Bevor alles verschwindet« einen eindrucksvollen Roman über das Ende einer Heimat geschrieben.

Es passt nicht in den allumgreifenden Positivismus der Gegenwart, wenn etwas nicht positiv genutzt werden könnte. Was aber macht man mit den Brachlandschaften in der Lausitz und in Ostsachsen, die die Braunkohlebagger der Energiegroßkonzerne hinterlassen. Das Allheilmittel heißt Naherholungsgebiet. In der Lausitz soll durch das Fluten der Kohlegruben in den nächsten Jahren Deutschlands größte Binnenseelandschaft entstehen. Segler sollen vor der Kulisse roter Mohnfelder über die Seen gleiten und Familien die Strände der Badeseen bevölkern. Und das alles unter den hoffnungsvollen Vorzeichen, dass das Ganze dem wirtschaftlich ausgebeuteten Osten Deutschlands auch noch die Existenz retten könnte. Ein famoser Plan, der jeden Lokalpolitiker begeistern muss. Allein ob er aufgeht, steht in den Sternen.

Die abgebaggerten Dorfgemeinschaften in der Lausitz, die erst lange protestierend ausharrten und schließlich einsehen mussten, dass auch der geschlossenste Widerstand nichts gegen die gefräßigen Schaufelräder der gigantischen Braunkohlebagger ausrichten kann, könnte die Kulisse des großartigen Romans Bevor alles verschwindet von Annika Scheffel sein. Darin schildert sie das letzte halbe Jahr einer dörflichen Schicksalsgemeinschaft, die, je weiter der Roman voranschreitet, gleichermaßen zusammenrückt und auseinanderfällt. Denn am Ende des Romans steht die Flutung ihrer Heimat, die zuvor von »gelbbehelmten« Bauarbeitern Stück für Stück zurückgebaut wurde. Zuerst fallen die bereits verlassen Häuser den Planierraupen zum Opfer, dann schließt die Kneipe im Ort, es werden die noch bewohnten Häuser geräumt und eingeebnet bis schließlich – kurz nach dem hundertjährigen Jubiläum der Ortschaft – Rathaus und Kirche gesprengt und der dorfeigene Friedhof versiegelt werden.

Die Kerngemeinschaft, die all dem beiwohnt und von Scheffels Erzähler in filmischen Schnitten vorgestellt wird, besteht aus vier Familien und wenigen Einzelpersonen. Der dem Alkohol verfallene Bürgermeister Martin Wacholder, genannt Wacho, lebt mit seinem introvertierten Sohn David im Rathaus. Sein Leben besteht darin, auf die Rückkehr seiner Frau Anna zu warten, die ihn vor drei Jahren von einem Tag auf den anderen wortlos verlassen hat. Den Frust über die gescheiterte Ehe lässt er prügelnd an seinem Sohn David aus, dessen einziger Fixpunkt ein ominöser Dorfbewohner namens Milo ist, der geisterhaft still das Geschehen im Dorf beobachtet. Das Gegenstück zu dieser familiären Katastrophe bilden Robert, Clara und die kleine Marie Schnee. Robert Schnee plant als Schauspieler ein mehrstündiges Proteststück, seine Frau Clara muss all die gebissenen Bauarbeiter ärztlich versorgen und Marie erkennt in ihrer Unbeschwertheit all die Geheimnisse des dem Untergang geweihten Ortes. Vielleicht liegt das auch an ihrer besonderen Beziehung zu Greta Mallnicht, der ältesten im Dorf, die nur noch ein Ziel hat: das Kreuz der Dorfkirche für das hundertjährige Jubiläum noch einmal auf Hochglanz zu polieren, um sich anschließend mit dem alten Motorrad ihres geliebten Mannes Ernst, dessen Grab sie täglich auf dem Friedhof besucht, in dessen »wunderbare Welt hinauskatapultieren« zu lassen. Außerdem ist da noch Mona Winz, die »dem Weltuntergang zuerst« begegnet und im Gegensatz zu Greta Mallnicht davon träumt, unsterblich zu sein. Die scheinbar normalste Familie bilden Elenie und Jeremias Salamander mit den Zwillingen Jula und Jules. Doch während die Zwillinge anfangs noch gemeinsam die große Protestaktion planen, könnte ihre Trennung am Ende des Romans, kurz bevor alles verschwindet, könnte schmerzhafter kaum sein.

Cover-Scheffel
Annika Scheffel: Bevor alles verschwindet. Suhrkamp Verlag 2013. 411 Seiten. 19,95 Euro. Hier bestellen

Das Schicksal von Jula und Jules steht exemplarisch für das der gesamten Dorfgemeinschaft, deren Mitglieder durch den drohenden Untergang, der durch den Staudamm im Rücken des Dorfes und die Rückbauarbeiten der Gelbbehelmten jeden Tag ins Bewusstsein der Dorfbewohner gerufen werden, einer einzigartigen Probe ausgesetzt werden. Zwar schweißt sie das gemeinsame Erleben des Verlusts ihrer Heimat enger zusammen, als jemals zuvor – insbesondere weil zunehmend Schaulustige der Zerstörung ihres Dorfes beiwohnen und sie wie seltene Tiere in einem Käfig bestaunen. Zugleich wird aber jeder einzelne Dorfbewohner mit sich selbst und seiner Geschichte mit diesem Ort konfrontiert. Der drohende Verlust des Platzes, den die meisten schlicht und einfach Zuhause nennen, weckt die Lebensgeister und Erinnerungen in jedem von ihnen. Jeder hat seine Geschichte und jeder fordert ein, dass seine Geschichte die echte Geschichte dieses Ortes ist, der vielleicht den Namen Thule, vielleicht aber auch den Namen Dystopia trägt.

In diesen dynamischen Prozessen der magischen Anziehung und radikalen Abstoßung liegt das Faszinierende und Merkwürdige dieser Gemeinschaft, die uns Annika Scheffels allwissender Erzähler hier präsentiert. Die Hannoveranerin, die 2010 mit ihrem Debütroman Ben auf der SWR-Bestenliste vertreten war, hat für die Beschreibung dieser intensiven Tage des Abschieds auf Raten eine bemerkenswert sachliche Sprache gefunden, eben weil sie sich für die Perspektive der allwissenden Beobachterin von außen entschieden hat. Sie bedauert nicht und bemitleidet nicht, aber sie schönt auch nichts oder überspielt künstlich Gewissheiten. Sie beschreibt einfach den Schmerz des Abschieds. »Das Problem: Man ist sich nicht einig, und die, die sich einig sind, die sind es, wie sie keine Meinung haben. … Alle sind sie da, aber die Worte scheinen ihnen zu fehlen. Was soll man auch sagen außer immer wieder »Bitte nicht!«.«

Annika Scheffels zweiter Roman ist absolut realistisch, denn die Studien, die Politikern empfehlen, ganze Landstriche zu entsiedeln und zu Naherholungsgebieten umzugestalten, liegen längst gedruckt in den Schubfächern von Landes- und Lokalpolitikern. So mancher Untergang ist längst beschlossen. Bevor alles verschwindet ist aber ebenso mindestens genauso fantastisch, wie er realistisch ist, denn ein ominöser blauer Fuchs, der nur die »Gelbbehelmten« anfällt, ein gefiederter Prinz unter den Bauarbeitern, ein unsichtbarer Dorfbewohner ohne Stimme und verstörend kindische Erwachsene sowie erwachsene Kinder bevölkern diesen Ort, dem Annika Scheffel angesichts des ihm drohenden Untergangs erst gar keinen Namen gegeben hat.

Vielleicht ist das aber auch ihre Liebeserklärung an die Figuren ihres Romans, die sich auch bis zuletzt weigern, ihrer neuen Heimat einen Namen zu geben. Die Würde der Übriggebliebenen erfordert, zunächst das Untergangene zu betrauern. Denn »Leben bewahrt sich in Erinnerungen, und mancher Moment wird erst dort Wirklichkeit, wo niemand mehr ihn klar sieht.«

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