Comic

Eine Gesellschaft am seidenen Faden

Die Geschichte der Großen Depression in den USA ist in allererster Linie eine Geschichte des Sozialen. Denn mit ihr gerieten Millionen Menschen ins Straucheln. Im Schatten der Krise tobt ein Krieg zwischen Geheimdienst und Gewerkschaften. Der Comic »Auf dem Drahtseil« erzählt davon.

Fred Bloch hat eine vermeintlich einfache Aufgabe. Er muss den Hebel umlegen. Allerdings setzt dieser Hebel einiges in Bewegung, denn an dessen Ende hängt eine Schnur, die mit einem Riegel verbunden ist, der wiederum eine Falltür aktiviert, die den Blick ins Bodenlose öffnet. In die Gefahr, ins Bodenlose zu fallen, begibt sich der Entfesselungskünstler Gordon Corey zweimal am Tag. Gelingt es ihm, seine auf dem Rücken verbundenen Hände zu befreien, kann er sich aus der Schlinge, die er sich um seinen Hals liegen lässt, rechtzeitig befreien. Gelingt es ihm nicht, hängt er.

Corey und Bloch sind Mitglieder eines Wanderzirkus, der in der Zeit der Großen Depression die Menschen in den USA unterhalten soll. Diese Wanderzirkusse gehören zu den vielen kulturellen Initiativen, die von Seiten des Staates neben zahlreichen anderen gemeinnützigen Betätigungsfeldern ins Leben gerufen wurden, um zum einen einigen Menschen eine berufliche Perspektive zu bieten und um zugleich die unter der Armut leidenden Amerikaner vom Elend abzulenken.

Der Comic Auf dem Drahtseil von den beiden Amerikanern James Vance und Dan E. Burr erzählt die Geschichte von Corey und Bloch in diesem Wanderzirkus. Im Zentrum steht dabei der junge Fred Bloch, der schon bald angeheuert wird, im Untergrund zum Nachrichtenboten der aufstrebenden Gewerkschaften zu werden. Die Arbeiterorganisationen standen in den 1930er und 1940er Jahren unter dem Generalverdacht, kommunistisch unterlaufen zu sein. Entsprechend mörderisch war die Atmosphäre im Amerika der dreißiger Jahre – auch wenn man erst unter McCarthy die wahren Ausmaße der staatlichen Verfolgung von Kommunisten in den USA spüren sollte.

Im realistischen, ansatzweise an Will Eisner erinnernden, aber etwas statischen Strich erzählen Vance und Burr von dieser Zeit der sozialen Kälte in den USA, die zugleich eine Ära der Verfolgung sind. Unter den Protesten der Arbeiter tobt ein rücksichtsloser Kampf des Geheimdienstes gegen die Kommunisten. Ein Streik war in diesem Kontext eine Kriegserklärung an den konservativ unterlaufenen amerikanischen Secret Service, weshalb Arbeiterkämpfe still und heimlich organisiert werden mussten. Auf dem Drahtseil erzählt authentisch von dieser Zeit der geheimen Mordaufträge, der nie aufgeklärten Kriminalfälle, von marodierenden Banden, glücksuchenden Hasardeuren und scheiternden Existenzen. In dem hier gewählten Ausschnitt ist der Comic durchaus als amerikanische Gesellschaftsgeschichte geeignet.

Ein tatsächliches Ärgernis dieses Comics ist jedoch sein deutscher Titel. Inwiefern der Übersetzer Egbert Hörmann daran tatsächlich eine Schuld trägt, konnte bis zum Zeitpunkt dieser Kritik nicht geklärt werden. Aber wer weiß, wie Titel heutzutage entstehen, kann sich zumindest vorstellen, dass Hörmann an dieser Stelle unschuldig ist. Im Original trägt der Comic von Vance und Burr den Titel On the Rope, was man ebenso gut mit Am Galgen oder Am seidenen Faden hätte übersetzen können. Man wäre damit der Erzählung inhaltlich deutlich näher gekommen. Denn Gordon Corey spielt am Galgen täglich mit seinem Schicksal und Fred Blochs Dasein hängt – stellvertretend für das der amerikanischen  Arbeiterschaft – am seidenen Faden. Nun mag man mutmaßen, dass es in einem gewöhnlichen Zirkus zweifelsohne auch Drahtseile gibt, über die zu laufen wäre, oder dass die Nerven der Besucher angesichts der Kunststücke wie ein Drahtseil gespannt sind. Aber allein ein Blick auf die die Geschichte eröffnende Seite hätte deutlich gemacht, dass Auf dem Drahtseil nicht nur nicht die richtige, sondern die falsche Wahl für den Titel ist. Die Seite zeigt Corey und Bloch auf der Bühne, der eine die Hand am Hebel, der andere die Schlinge schon in der Hand.

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James Vance & Dan E. Burr: Auf dem Drahtseil. Aus dem Amerikanischen von Egbert Hörmann. Metrolit Verlag 2013. 250 Seiten. 24,99 Euro. Hier bestellen

Lesenswert ist dieser Comic dennoch, denn er erzählt dicht in klaren Schwarz-Weiß-Zeichnungen vom Kampf der Arbeiter um ihre Rechte. Wenn man so will, begründet dieser Comic noch einmal nachholend die Existenz linker, sozialdemokratischer Politik und die Idee des Wohlfahrtsstaates.

Vor allem muss man diesen Comic als Auftakt ihrer spektakuläreren Arbeit lesen, für die James Vance und Dan E. Burr bereits 1988 zwei der renommierten Eisner-Awards und 1989 einen Harvey-Award erhalten haben. Der in sechs Episoden erschienene Klassiker Kings in Disguise bildet die Vorgeschichte zu On the Ropes. Die Erzählung setzt deutlich früher, am Anfang der großen Depression ein, und folgt den Spuren des hier 13-jährigen Fred Bloch, der von seiner Familie getrennt wird und sich allein durchschlagen muss. Die Suche nach seinem Vater bringt ihn nach Detroit, ins Zentrum der Arbeiterproteste. Diese in spektakulären Bildern erzählte Geschichte ist leider immer noch nicht für den deutschsprachigen Markt erschlossen. Ob der Metrolit-Verlag nach Auf dem Drahtseil auch die Vorgeschichte übersetzen lassen und publizieren wird, steht nach Angaben des Verlags noch nicht fest. Es wäre zu wünschen.