Philosophie, Sachbuch

Verräterische Haltung

Gehen wir aufrecht, weil wir Menschen sind oder sind wir Menschen, weil wir aufrecht gehen? Der Philosoph Kurt Bayertz präsentiert den aufrechten Gang als philosophischen Topos, das die Reflektion über den Menschen und seine Position in der Welt von der Antike bis in die Neuzeit prägt.

»Und während die anderen Wesen gebeugt zu Boden blicken, gab er dem Menschen ein hoch erhobenes Antlitz, ließ ihn den Himmel betrachten und sein Gesicht stolz zu den Sternen erheben. So nahm ein eben noch roher, ausdrucksloser Erdenkloß, verwandelt, die bis dahin unbekannten Züge des Menschen an.« Mit diesen Worten beschrieb der römische Dichter Ovid in seinen Metamorphosen den Wesenszug des Menschen, dessen Aufgabe es in der Welt war, nach oben blickend den Kosmos als Werk eines himmlischen Schöpfers zu betrachten.

Ovids These, dass der Mensch nicht nur geschaffen sei, weil die Welt ohne ein denkendes Wesen, sondern auch, weil sie ohne ein den Himmel betrachtendes Wesen nicht vollständig gewesen sei, ist nur eines von zahlreichen Erklärungsmustern für den aufrechten Gang des Menschen, der sich durch die Geschichte des anthropologischen Denkens zieht. Die Frage, warum der Mensch aufrecht geht, steht im Zentrum von Kurt Bayertz’ überaus faktenreichen Analyse dieses Denkens, in dem er die religiösen, philosophischen und mythologischen Anpassungsleistungen nachvollzieht. Dabei nimmt er seine Leser mit auf eine Reise, die vom kosmologischen Menschenbild Ovids bis hin zum orthopädischen Menschenbild der Neuzeit führt, in der der aufgerichtete, gerade Körper wieder aller zivilisatorischen Bedingungen zum Ideal erhoben wird.

Der Ausgangspunkt von Bayertz Untersuchung ist das kosmologische Weltbild der Antike, in der die Weltgeschichte mit einer Schöpfungsgeschichte des Kosmos verbunden ist. Die aufrechte Haltung des Menschen erklärt sich in der Nachempfindung der vertikalen kosmischen Struktur, damit der Mensch sich dem Firmament zuwenden kann. Den antiken Philosophen war jedoch schnell aufgefallen, dass es andere Zweibeiner gab, die sich aufgrund ihrer Fähigkeit, sich in die Lüfte zu erheben, noch viel besser gen Himmel wenden konnten, so das Platin den Menschen schließlich als einen »ungefiederten Zweibeiner« beschrieb. Von einer Definition des Menschen als denkendes Wesen war man in der klassischen Antike weit entfernt, weil man sich bei Klassifikationen ganz und gar auf die äußeren Merkmale fokussierte – wie heute übrigens auch. Niemand würde den gestiefelten Kater, der zum kulturellen erzählerischen Welterbe gehört, als Menschen bezeichnen, wenngleich er denken kann. Allerdings bringen uns sein aufrechter Gang und die menschliche Kostümierung ins Schlingern, da »die zweifüßige, aufrechte Gestalt die empirische ‚Hauptqualität’ der menschlichen Art« ist.

Die skeptische Philosophie sah in der aufrechten Haltung des Menschen eine durch einen Demiurgen nachträglich geschaffene Form, die dem Kopf als »Container der Seele« Halt gibt, dass er nicht wild durch die Welt rollt. Aristoteles dachte dieses Konzept des beseelten Kopfes als »Wohnstätte des Göttlichsten und Heiligsten in uns« weiter und leitete aus der intellektuellen Fähigkeit des Menschen einen Zusammenhang von aufrechter Haltung und Denkfähigkeit ab. Der aufrechte Gang schaffe eine das Denken fördernde Verteilung des Körpergewichts, so dass es dem Menschen auch nicht freigestellt, sondern aufgegeben sei, vernünftig zu sein. Dieser Gedankengang führte zur Logik seiner Nikomachischen Ethik, derzufolge der Mensch durch Denken zur Vernunft gelange und damit seine höchste und göttlichste Eigenschaft zur Entfaltung bringe.

Die christliche Philosophie und Theologie musste einige mühsame Denkübungen unternehmen, um vom kosmologischen Weltbild der Antike zum christlichen Weltbild zu gelangen, in dem der Mensch als die Krone der Schöpfung die Welt schmückt. Zunächst gewann der Schöpfergott an Bedeutung und rückte als höchster Bezugspunkt an die Stelle des Kosmos. So war die Deutung, der Mensch laufe aufrecht, weil er in einer räumlichen Beziehung zum Kosmos stand, nicht mehr haltbar. Was aber konnte dann die aufrechte Haltung des Menschen erklären? Die Bibel liefert dafür keine Anhaltspunkte, anthropologische Erklärungsansätze kann man in ihr nicht finden. Bayertz springt hier ein und führt uns die Denkmechanismen der frühen Christen vor Augen. Grundlage der theologischen Interpretation liefert das Buch Genesis und die darin verankerte göttliche Providenz des Menschen, der »nach dem Abbild Gottes« geschaffen worden sei. Der aufrechte Gang also als sichtbares Zeichen der Gottebenbildlichkeit? Ein Ansatz, den die Theologie lange Zeit verfolgt hat. Allerdings führte dieser Ansatz zugleich in eine Sackgasse. Wenn die Gottesähnlichkeit im aufrechten Gang erfüllt ist, warum ist der Mensch dann im Gegensatz zu allen anderen Wesen geist- oder seelenerfüllt? Müsste nicht vielmehr in dieser seelischen Ähnlichkeitsrelation die Gottebenbildlichkeit des Menschen liegen? Lange Zeit bissen sich die Theologen an dieser Frage die Zähne aus, bis Augustinus auf den Gedanken kam, dass der aufrechte Gang als Mahnmal die seelische Ebenbildlichkeit von Mensch und Gott bezeugen könne. Die äußere Gestalt wird zum Ausdruck der gottgleichen Beseeltheit des Menschen.

Die Geschichte des aufrechten Gangs könnte hier enden, wenn die Bibel nicht auch die Schuldhaftigkeit des Menschen als zentrales Motiv anführen würde. Wenn der aufrechte Gang als äußeres Merkmal für die geistige Geradheit des Menschen, der nach Gottes Bild geschaffen ist, steht, muss dann der Sündenfall des Menschen im Paradies nicht dazu führen, dass der Mensch von zwei Beinen auf alle vier gestellt wird? Der Schlange passiert genau das, wie man auf den Kunstwerken der klassischen Malerei oft sehen kann. Aus dem zweibeinigen, mit Händen ausgestatteten Reptil wird aus Strafe ein auf dem Bauch kriechendes Wesen. Warum aber wird der Mensch, der doch den Sündenfall begangen haben soll, verschont? »Der gefallene Mensch bedarf eines Mahn- und Orientierungszeichens; die aufrechte Haltung ist eins«, erklärt Bayertz. Dass der Mensch aufrecht bleiben durfte, wäre dann ein Ausdruck göttlichen Wohlwollens. Das Topos des aufrechten Ganges wird von dem des sündigen Menschen und der göttlichen Vergebung abgelöst.

In der Renaissance kehrt das antike Thema zurück, aber zuvor vollzieht sich eine Wendung der Zielgerichtetheit der menschlichen Würde aus dem Jenseits heraus ins Diesseits: Der aufrechte Gang sei das Signal eines Auftrags an den Menschen, seine gottgleiche Rolle anzunehmen und die Welt zu lenken. Ziel des Handelns ist hier nicht mehr Gott, sondern die Welt selbst, die einzurichten es gilt. Es stellt sich dann aber umgehend die Frage, warum der Mensch denn aktiv werden sollte, wenn doch die Welt im christlichen Sinne zu seinen Gunsten eingerichtet wurde? Hier nun rücken die Renaissancehumanisten in den Vordergrund, allen voran Pico della Mirandola, der in seiner Schrift Über die Würde des Menschen zu dem Schluss kam, dass es eine göttliche Ordnung nicht gibt und sich der Mensch »ohne jede Einschränkung und Enge« seinen Platz suchen muss. Mit dem Zusammenbruch einer göttlich geschaffenen Welt, in der alles an seinem wohlgeordneten Platz ist, gewinnt der Topos der individuellen Freiheit an Gewicht.

Ins Gewicht fällt bei der anthropologischen Reflexion der menschlichen Haltung aber auch dessen Statik. Mit der medizinisch-anatomischen Erkundung des menschlichen Körpers und seiner Mechanismen rückt das Hauptaugenmerk auf das sehr diesseitige Wunder seines aufrechten Gehens, ist diese Haltung doch weder ein Garant für Stabilität noch für physische Gesundheit. Ginge es um Aspekte der Sicherheit und der Gesundheit, dann müsste sich der Mensch auf allen vieren fortbewegen. Die statischen und koordinativen Schwierigkeiten der Bipedie führt Bayertz anhand der mühsamen Entwicklung von laufenden Robotern vor Augen. Und die zahlreich fallenden Roboter machen wiederum deutlich, dass Julien Offray de La Mettrie, seines Zeichens enfant terrible der Aufklärung, mit seiner provokanten Beschreibung des Menschen als »aufrecht kriechende Maschinen« fast schon seherische Qualitäten bewies. Klar ist aber auch, dass der aufrechte Gang spätestens ab der Renaissance nur noch schwerlich mit der Intellektualität bzw. Geistigkeit des Menschen in Einklang gebracht werden konnte. Haltung und Geist waren im anthropologischen Denken auseinandergefallen.

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Kurt Bayertz: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens. Verlag C. H. Beck 2013. 415 Seiten. 26,95 Euro. Hier bestellen

Bayertz führt die philosophisch-geisteswissenschaftlichen Deutungen des aufrechten Ganges des Menschen anhand der medizinischen Errungenschaften, evolutionsbiologischen Prozesse und naturalistischen Perspektiven vor Augen. Dass der Mensch keineswegs das einzige Wesen ist, das sich auf zwei Beinen bewegt, war schon den Platonikern bewusst. In der Aufklärung wurde dieser Gedanke aufgegriffen und weiterentwickelt. Wenngleich ohne bedeutende empirische Grundlagen tauchten plötzlich Vergleiche mit Affen auf. Doch so wie die theologischen Deutungen zu neuen philosophischen Probleme führten, erging es auch den Aufklärern. Die naturalistische Perspektive führte dazu, dass aus dem Versuch, den Menschen gegenüber der religiösen Weltflucht diesseitig aufzuwerten, die ernüchternde Feststellung folgte, dass er nur ein Tier unter vielen ist, dass das besondere Merkmal der Zweifüßigkeit habe. Über Lamarck und Darwin schließlich entwickelt sich das Konzept der Anpassung und der natürlichen Selektion, wobei aus heutiger Perspektive die Aufrichtung des Menschen keine Lösung für eine einzige Herausforderung der Evolution ist, sondern die Summe von Anpassungsleistungen ganz unterschiedlicher Art.

Bayertz zeigt aber auch eindrucksvoll, wie unsere aufrechte Haltung zur Sprachfähigkeit des Menschen beiträgt, wie sie die Arten der sexuellen Begegnungen des Menschen prägt und nicht zuletzt die Deutung der Welt durch den Menschen beeinflusst. Zahlreiche metaphorische Wendungen lassen darauf schließen, etwa diejenigen, die eine innere Geradlinigkeit auszeichnet, als »aufrechte Menschen« bezeichnet werden, die »erhobenen Hauptes« durch die Welt gehen können.

Hier folgt nun die Ablösung der Deutung des aufrechten Ganges durch Theologie und Philosophie durch die empirischen Wissenschaften sowie die Herausbildung einer Anthropologie des aufrechten Ganges als Grundlage der menschlichen Kultur. Denn mit der Aufrichtung des Körpers erhält der Mensch zwei der vielfältigsten Werkzeuge, die man sich vorstellen kann: seine freien Hände. Sie ermöglichen es, dass er seine Sonderstellung einnimmt, Kunst Literatur und Malerei schafft und sich selbst zu einem Geisteswesen aufschwingt. »Denn mit den freien Händen, der Sprache und den unbegrenzten Lebensfreuden, werden körperliche Voraussetzungen für die kulturerzeugende Praxis des Menschen angeführt.« Es findet also eine Ablösung der reinen evolutionsbiologischen Deutung des aufrechten Ganges statt und die Aufrichtung des Menschen wird unter den Bedingungen der unsicheren Statik zur selbst vollbrachten Leistung des Menschen gesehen. »der Mensch steht nur, weil und sofern er will, und nur solang, als er es bewusstlos will«, schrieb Hegel in seiner Enzyklopädie. Und Fichte ergänzte, dass es dem Menschen »als Gattung überlassen worden [sei], seine Bewegungsweise sich selbst zu wählen.«

Inzwischen, so scheint es, wird diese selbst erbrachte Leistung des Aufrichtens zum Maßstab des Menschen in der Moderne. Die zahlreichen orthopädischen Vorbeuge- und Nachsorgemaßnahmen, mit denen sich der gebeugte Büro- und Schreibtischmensch, konfrontiert sieht, um ihn wieder in die vertikale zu biegen, erzählen davon. Dabei gehe es »um die Korrektur eines unter zivilisatorischen Bedingungen eingeschliffenen falschen Gebrauchs der Körperhaltung und des eigenen Körpers insgesamt«, schreibt Bayertz am Ende seiner imposanten Studie der philosophischen, theologischen, (evolutions-)biologischen, statischen, lebenspraktischen und mythologischen Reflexion der Besonderheit, dass wir aufrecht gehen.

In seiner überaus lesenswerten und leicht zu lesenden Geschichte des anthropologischen Denkens führt Kurt Bayertz nicht nur vor Augen, wie sich die philosophische Reflektion des Menschen immer wieder an dessen Rolle in der Welt neu ausrichtet, sondern er erzählt in der Manier eines grandiosen Aufklärers die große Geschichte der Selbstbefreiung des Menschen aus seiner selbst gewählten Unmündigkeit am Beispiel seines Ganges.