Literatur, Roman

Klassenkampf mit Rückkopplung

Im vergangenen Jahr gewann Lisa Kränzler überraschend den 3sat-Preis beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Mit ihrem Auszug »Willste abhauen« aus ihrem Roman »Nachhinein« über zwei ungleiche Mädchen überzeugte sie die Jury.

JasminCelineJustine und LottaLuisaLuzia sind zwei Freundinnen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Schon die Namen, die Kränzler ihren beiden Protagonistinnen gibt, sind kein Ausdruck irgendeiner Individualität, sondern Symbole einer sozialen Herkunft. Sie ziehen die unsichtbare und unüberwindbare Grenze, die auch zwischen Kreuzberg und Neukölln, Schwabing und Moosach oder Blankenese und Wilhelmsburg verläuft. LottaLuisaLuzia wohnt auf der einen Seite dieser Grenze, JasminCelineJustine auf der anderen.

Die Dreieinigkeit der Namen macht deutlich, dass sich Kränzler gar nicht festlegen will, wer genau diese beiden Mädchen sind. Sie sind zunächst keine Persönlichkeiten, sondern Prototypen für bestimmte Schichtenbiographien. Akademiker-Familie gegen Arbeiter-Sippe; oder wie es eine der beiden Ich-Erzählerinnen zu Beginn des Romans beschreibt: »Hüben Lehrplan, drüben Schichtplan; da Eigenheim, dort Mietwohnung; rechts Standpauke, links Arschvoll.« Neben die Herkunft und ihre Begleiterscheinungen setzt Kränzler noch eine weitere Dimension; die der Erfahrung mit der erwachenden Sexualität.

Bereits mit ihrem ersten Roman Export A, der vom Innenleben einer deutschen Austauschschülerin im evangelikalen Kanada erzählt, griff Lisa Kränzler auf die Tradition des Entwicklungsromans zurück, der sich ganz auf das Innenleben seiner Protagonisten konzentriert. In ihrem zweitem Roman Nachhinein ist dies noch stärker ausgearbeitet.

Was die beiden Mädchen zusammenhält? Ein gemeinsamer Schulbesuch in der Unterstufe, ein immer wieder aufblitzendes, an die Streetfighter-Charaktere angelehntes Rollenspiel sowie die für Teenager typische Neugier an der erwachenden Libido bilden die Grundlage der Gemeinsamkeit, die sich im Laufe der 270 Seiten sukzessive auflöst. Denn während für eines der beiden Mädchen Sexualität noch eine vielversprechende terra incognita ist, hinterlässt diese bei der anderen nichts als verbrannte Erde.

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Lisa Kränzler: Nachhinein. Verbrecher Verlag 2013. 270 Seiten. 22,- Euro. Hier bestellen

Bei Nachhinein handelt es sich keineswegs um einen vergnüglichen Coming-of-Age-Roman wie etwa Wolfgang Herrndorfs Tschick. Zwar stehen bei Herrndorf mit Maik und Andrej auch zwei Teenager im Mittelpunkt, die sich schichtenspezifisch eigentlich nicht viel zu sagen hätten, aber ihr Interesse und ihre Neugier aufeinander bilden die Brücke, die sich über diese Schichten hinweg spannt und sie ein Abenteuer sondergleichen durchmachen lässt. Luisa und Celine (der Einfachheit halber sei ab hier der Name für beide Mädchen gewählt, der ihrem Prototypen am ehesten entspricht) erleben kein Abenteuer miteinander, sondern machen nebeneinander ihre persönliche Katastrophe durch.

Die Katastrophe von Luisa sei an dieser Stelle einmal unterschlagen, da sie ohnehin nur aus der Perspektive des aufgesetzten Bildungsbürgers katastrophal erscheint. Gegenteiliges lässt sich für Celine behaupten, die in ihrer Familie einer ständigen Gefahr ausgeliefert ist. »Überall lauert und kauert was, Böswilliges verschleiert sich blau. Hinter der angelehnten Schlafzimmertür schnarcht es bedrohlich.« Diese Bedrohung bricht sich früh im Roman Bahn und schiebt sich, erst verhohlen und schließlich mit erschlagender Gewalt, als Missbrauch in den Vordergrund der Erzählung. »Letztes Blenden des Lampenlichts, bevor er sie niederwalzt. Jetzt auf dem Rücken. Dicht an dicht mit der unentschlossenen Silhouette die verdunkelt-erhellt-verdunkelt-erhellt…«

Sprachlich souverän beschreibt Lisa Kränzler den Missbrauch durch den Vater. In diesen Passagen entkommt Celine ihrem Prototyp und entwickelt eine Persönlichkeit, die sich dem Unrecht, was ihr widerfährt, überaus bewusst ist, ihm aber zugleich nicht entkommen kann. »Liegen bleiben. Immer nur liegen bleiben, auf feuchten Laken, vollgesogen mit FALSCH, angstverklebt, hassverkrustet. Glibbern zwischen ihren Beinen.«

Diese ebenso glasklare wie bilderreiche Prosa der studierten bildenden Künstlerin übt eine verstörende Wirkung auf den Leser aus, der im selben Moment angezogen und abgestoßen wird von dieser dramatischen, hochemotionalen schreibmusikalischen Lektüre. Zuweilen überschlägt sich Kränzlers wild-rhythmisiertes Spiel mit Phrasen und Wortblöcken, Dialekten und Jugendslang, Zitaten und freien Assoziationen, Zahlenketten und typografischen Hervorhebungen und statt einem poetischen Klang schrillt das Fiepen einer Rückkopplung in den Ohren.

Aber vielleicht ist dieses Fiepen auch Ausdruck der Rage, die sich im Leser stellvertretend breitmachen muss. Eine Rage über die Gesellschaft, in der sich niemand mehr dafür interessiert, was hinter der Tür nebenan geschieht, wo sich täglich solche Geschichten ereignen. Dann ist dieses wild kontrollierte, Jackson-Pollockhafte Schreiben genau das richtige Mittel.

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