Literatur, Roman

»Das Leben ist ein Hund, und die Angst ist gefährlich«

Die Wiener Schriftstellerin Anna Weidenholzer lässt in ihrem poetischen Roman »Der Winter tut den Fischen gut« ein Leben rückwärts laufen und entblößt dabei das entwürdigende System der modernen Arbeitswelt.

Geschichten sind für gewöhnlich Geschichte, wenn sie erzählt werden, da dies das Erzählen ungemein erleichtert. In den meisten Fällen werden sie dann chronologisch, vom Anfang dem Ende entgegenlaufend, erzählt –Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit ist ein Paradebeispiel dafür. Wenngleich Prousts Ich-Erzähler mehr als nur eine Geschichte erzählt, verläuft die Handlung chronologisch zur Biografie des Erzählers. Als Leser wird man mit ihm erwachsen, klug und alt, bis man die Geschichte, die man gerade gelesen hat, selbst erzählen möchte. Der moderne Roman bricht die Chronologie aber auch immer wieder mal auf, indem Erinnerungen oder Prophezeiungen eingeschoben werden. Ursula Krechels Landgericht war entsprechend strukturiert. Deutlich seltener ist man als Leser Zeuge einer Erzählung in Echtzeit oder zumindest einer Erzählung, die Echtzeit glaubhaft vortäuschen kann. Navid Kermani hat in seinem letzten Roman Der Name bewiesen, dass das grandios sein kann.

Die 1984 geborene Anna Weidenholzer hat die Erzähltheorie an den Haken gehangen und für ihren Roman Der Winter tut den Fischen gut all diese Möglichkeiten über Bord geworfen. Sie erzählt die Geschichte der arbeitslosen Maria Beerenberger gegen die Chronologie der Ereignisse. Aus welchem Grund sie das macht, können wir nur erahnen. Es spricht einiges dafür, dass wir als Leser die Ursachen für das, was ihr widerfährt, nicht kennen und so unvoreingenommener und immer wieder auch rücksichtsloser mit dieser Frau und ihrem Schicksal umgehen sollen. Vielleicht ist es aber auch das Vorhaben, es den Lesern zu verunmöglichen, bestimmte Geschehnisse schon vorauszuahnen, die zwischen den Zeilen lauern. Aber auch die Tatsache, dass Weidenholzer diese Geschichte mit ihrem Ende beginnt und damit von Anfang an einen Weg vorgibt, der keinen Ausweg zulässt, scheint von Gewicht.

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Anna Weidenholzer: Der Winter tut den Fischen gut. Residenz-Verlag 2012. 234 Seiten. 21,90 Euro. Hier bestellen

Wir lernen Maria Beerenberger in einer Situation kennen, in der ihre Verletzlichkeit kaum größer sein könnte. Sie ist Ende vierzig, muss seit einiger Zeit arbeitslos sein – sie vermutet in der Post den Bescheid über die Kürzung ihrer Ansprüche nach zu langer erfolgloser Arbeitssuche – und steckt in einer Beziehung, die mehr mit Last als mit Lust verbunden ist. Ihre Selbstzweifel entsprechen der ihr entgegengebrachten Skepsis, ergänzt mit den Demütigungen, die sie im Arbeitsamt und bei den unsinnigsten »arbeitsfördernden Maßnahmen« über sich ergehen lassen muss.

In 54 Kapitel führt Anna Weidenholzer ihre Leser hinab in das Leben der gelernten Verkäuferin Maria Beerenberger, die zwar keine wirklichen Schicksalsschläge erleiden musste, aber auch von kaum einer Gemeinheit des Daseins verschont blieb. Schlag auf Schlag liest man sich zurück in ein Leben voller Unannehmlichkeiten. Das Durchschnittsdrama dieser Vita baut sich nicht langsam auf, sondern wird Stück für Stück für Stück entblättert. Da man, dieses Leben rückwärts lesend, niemals auf Vorgeschichten zurückgreifen und die alltäglichen Dramen nicht addieren kann, nimmt man zahlreiche Nackenschläge, die Maria Beerenberger einstecken muss, nur mit einem Schulterzucken war. Was ist schließlich schon dabei, wenn sich der Arbeitsberater mal im Ton vergreift.

Aber wenn sich der Arbeitsberater nicht nur im Ton vergreift, sondern auch anmaßt, zu bewerten und zu beurteilen, was er nicht kennt (»Warum sollte sich ein Arbeitgeber für Sie entscheiden, wenn hinter Ihnen eine ganze Reihe junger attraktiver Verkäuferinnen steht.«), wenn man nach jahrzehntelanger Dienstpflicht ohne Vorwarnung das Entlassungsschreiben mit einem zynischen Kommentar in die Hand gedrückt bekommt (»Sie haben jetzt die Freiheit, von vorn zu beginnen.«) und wenn man in einer Ehe steckt, in der erst gar kein Versprechen gegeben wurde, das zu brechen gewesen wäre (»Ich weiß gar nicht, wie ich mit dir leben soll, aber ohne dich geht es auch nicht, sagt Walter und kniet nieder.«), dann kann man das schon als Elend bezeichnen.

Lapidar, nüchtern und zugleich mit großer Sensibilität für die Wirkmächtigkeit von Worten erzählt Weidenholzer von diesen täglichen Dramen eines Lebens, das am Ende eine tragische Note erhält. Ihr gelingt es insbesondere in den Passagen, in denen sie die Arbeitslosigkeit ihrer Protagonistin reflektiert, den modernen Kapitalismus und dessen entwürdigenden Logiken poetisch zu entblättern. »Das Leben gibt oft Prüfungen auf, und nur wer sie besteht, gewinnt.« Der Alltag als permanente Hürde, die es zu überwinden gilt, um vor der nächsten zu stehen, das Dasein ein unaufhörlicher Kampf gegen die Bedrohung der Existenz – davon erzählt die Wiener Schriftstellerin in ihrem Roman.

»Das Leben ist ein Hund, es beißt und hat Flöhe, hat ganz kurze Dackelfüße und rennt viel zu schnell«, heißt es in einem der Lieblingslieder von Marias Mann, der eines Tages auf dem Sofa einschläft und nicht mehr aufwacht. Später im Roman erfahren wir, dass das wohl auch besser so war. Und das dieses Leben eigentlich schon von Anfang an viel zu schnell für Maria Beerenberger ist.