Literatur, Roman

Spaziergänge durch Migropolis

Der 37-jährige Kunsthistoriker Teju Cole hat das gewagt, wovon ihm jeder Literaturagent im Vorhinein abgeraten hätte: Er hat die Komplexität New Yorks und das Lebensgefühl eines Zugewanderten in einem Panoramabild eingefangen.

Teju Cole hat mit seinem Erstlingsroman ein Gesamtbild von New York geschaffen, das sich von allen vorhergehenden New York-Entwürfen emanzipiert zeigt, indem es sich absolut auf der Höhe der Zeit befindet. In Open City streift sein Alter Ego Julius, ein junger deutsch-nigerianischer Psychiater, durch New York, um sich von seiner noch zu schreibenden Doktorarbeit abzulenken und einen freien Kopf zu bekommen. Er läuft spontan in Ausstellungen, Kinofilme und Konzerte, lässt sich gedankenversunken vom Rhythmus der Stadt treiben und ver-läuft sich das ein oder andere Mal in eigentlich vertrauten Vierteln New Yorks. Die innere Unruhe von Julius, die ihn auf die Straßen New Yorks treibt, ist der Gegenpol zur äußeren Unruhe der Stadt, die sich beide gegenseitig absorbieren. Während Julius tobendes Innenleben im Chaos New Yorks zur Ruhe findet, ordnet sich in Julius Kopf das ihn umgebende Durcheinander der Metropole.

Dabei trifft Julius auf eine Unmenge an Menschen, darunter seinen ehemaligen Professor, einen liberianischen Ex-Knacki, einen Schuhputzer aus Haiti, eine rechtspopulistische Amerikanerin oder marokkanische Gaststudenten. In den Begegnungen und Gesprächen, die er auf der Straße führt und einfängt, in den Eindrücken und Einblicken, die ihm während seiner Streifzüge durch die Straßen New Yorks gewährt werden, in den Erinnerungen und Gedanken, Assoziationen und Bezügen, philosophischen und soziologischen Debatten die ihm während seiner stundenlangen Exkursionen durch den Kopf gehen, präsentiert sich diese Weltmetropole als bunte, aber auch verletzte Migropolis, für die der Begriff des Schmelztiegels nicht mehr passen will. Denn im Schmelztiegel läuft alles zusammen. In Coles Roman bleiben aber alle Vielfalt und Unterschiedlichkeit, Dissonanzen und Differenzen, Konflikte und Gegensätze nebeneinander stehen. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie Teil vom Ganzen sind und dieses bilden, so wie Gegensätze und Brüche auch zu einem Leben gehören. Machte Jason Lutes Berlin zur Steinernen Stadt, die sich zentnerschwer über ihre Einwohner legt, entwirft Teju Cole New York als lebendige Stadt, die erst durch die Biografien ihrer Bewohner Gestalt annimmt.

Der Titel Open City leitet sich zum einen aus dem Kriegsvokabular ab, in dem die offene Stadt – Brüssel im 2. Weltkrieg, weshalb Brüssel in diesem Roman keine ganz unwesentliche Rolle spielt – ein Territorium darstellt, in das der Feind einmarschieren kann. Cole porträtiert das New York nach 9/11 subtil als eine Stadt im Kriegszustand. Die Bedrohung von außen, das Abschotten nach innen, der imperiale, postkoloniale Impuls – all das bildet in diesem Roman einen Teil des Untergrunds, auf dem sich Julius bewegt. Auch im Brüssel-Kapitel spielt diese innere Architektur eine Rolle, als »Stadt der Technokraten« schottet sich auch dieses Zentrum des europäischen Daseins ab, das ihr ja keiner zu nahe kommen kann.

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Teju Cole: Open City. Aus dem Amerikanischen von Christine Richter-Nilsson. Suhrkamp-Verlag 2012. 335 Seiten. 22,95 Euro. Hier bestellen.

Hier diskutiert er mit Farouk, einem immigrierten Marokkaner, den er in einem Internet-Café aufgabelt, über den postkolonialen Impuls, der in Brüssel ebenso wie in New York existiert und auch vor der Kulturszene nicht Halt macht. Sie diskutieren über das Fremde, beginnend bei Tahar Ben Jelloun (»Er schreibt nicht über das Leben der Menschen, er erzählt Geschichten mit orientalischen Elementen. Er betreibt Mythenbildung«.) über Mohammed Choukri (»Choukri blieb in Marokko und lebte unter seinen Leuten«) und landen bei Edward Said (»Er wusste schon damals, dass Differenz nie akzeptiert würde.«). Die Lage im Nahen Osten – Israel, Palästina, Irak – und schon befindet man sich als Leser mitten in der Debatte der kritischen Theorie.

Open City motiviert sich aber auch aus der positiven open mindedness der Einwanderungsgesellschaft, aus der Offenheit gegenüber neuen Konzepten, Debatten und Standpunkten. Diese lässt Cole beziehungsweise sein Alter Ego Julius nicht ohne kritischen Kommentar stehen, weigert sich sogar, eine immigrantische Solidarität zu entwickeln.

Die jubelnden Kritiken – die ihren Teil dazu beitrugen, dass er in diesem Jahr den Internationalen Literaturpreis vom Haus der Kulturen der Welt erhalten hat – verglichen Coles Roman mit W.G. Sebalds Austerlitz. Cole selbst sieht sich, was das Schreiben über Orte betrifft, vielmehr in der Tradition von Literaturnobelpreisträger V. S. Naipaul, „der mit den Leuten spricht, der dann ihre Geschichten erzählt, aber zugleich immer seine eigenen Reaktionen mitnotiert“. Wer auch immer als Vorbild noch in Frage kommt, mit Teju Cole hat eine große erzählerische Stimme die Bühne der Literatur betreten.

Internetseite des Autors: www.tejucole.com

6 Kommentare

  1. […] Stimmen ist, hat sich hier einiges von Kafka abgeschaut, dessen Texte sie – neben denen von W.G. Sebald und Christian Kracht – ins Koreanische übertragen hat. Und wie bei Kafka geht es ihr weniger um […]

  2. […] Nadifa Mohamed ist 1981 in Somalia geboren und als Kind mit ihrer Familie nach London gegangen. Sie studierte in Oxford Geschichte und Politik und wollte dann eigentlich Filmemacherin werden. Stattdessen kam ein Roman dazwischen, die schier unglaubliche Geschichte ihres Vaters auf seinem Weg nach Europa durch das von Mussolinis Truppen gezeichnete Ostafrika. Für Black Mamba Boy – so heißt eben jener Erstlingsroman – hat Nadifa Mohamed den Betty Trask Prize erhalten, eine Auszeichnung für das beste Debüt für Autoren unter 35 in den Commonwealth-Staaten. Darüber hinaus wurde der Roman auf zahlreiche Shortlists aufgenommen, u.a. beim Guardian First Book Award oder dem PEN/Open Book Award. Das britische Literaturmagazin Granta zählt die Londonerin seit dem Erscheinen von Black Mamba Boy zu den besten jungen britischen Gegenwartsautoren. Ihr Schreiben ist beeinflusst insbesondere von dem ivorischen Autor Ahmadou Kourouma, der die afrikanische orale Tradition mit westlichen Erzählstilen kombiniert hat. Aber auch Toni Morrison, Arundhati Roy, Claude McKay oder Dylan Thomas haben Nadifa Mohameds Schreiben geprägt. Sie gehört zweifelsohne zu den Afropolitans rund um Taiye Selasi und Teju Cole. […]

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