Literatur, Roman

Zwischen Grevesmühlen und New York liegt die Südsee

»Die Südsee ist einigermaßen versaut worden, es muss einmal gesagt sein. Schuld haben die Missionare. Nirgendwo auf der Welt, in keinem noch so gottverlassenen Winkel, tragen sich die Damen so hochgeschlossen, so total bedeckt, wie hier, in den einstigen Paradiesen der Bounty und der Seahawk.« Wo, wenn nicht in der Südsee, verstecken sich die Robinsons unserer Zeit? Dieser Frage geht Ernst Augustin in seinem fantastischen Roman »Robinsons blaues Haus« nach.

Ernst Augustin ist ein Meister der Fügung. Er sucht die große Kunst nicht im Gigantischen, sondern im Kleinen. Er arbeitet nicht mit den großen Registern, sondern mit den Details, verschiebt Nuancen und spielt so mit Raum, Zeit, Identitäten und Perspektiven. Die einzelnen Erzählstränge zusammenzuhalten ist niemals einfach. Es kann durchaus vorkommen, dass dem Lesenden die Erzählstränge aus den Händen gleiten, sich wie von Zauberhand gesteuert fest um seine Gelenke legen und diesen plötzlich wie eine Marionettenpuppe durch die Erzählung führen. Dann bleibt nichts, sich dem hinzugeben und führen zu lassen. In Augustins Romane eintauchen heißt, sich in fremde Welten zu begeben. Mit der Wirklichkeit haben seine Geschichten in gleichem Maße alles und nichts zu tun. Sie sind nur ganz leicht verzerrte Abbilder der Realität, die den Leser eben deshalb nicht loslassen, weil sie die Möglichkeit des Realen nicht ausschließen.

Auch in seinem, im vergangenen Herbst für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman Robinsons blaues Haus ist dies der Fall. Darin präsentiert Augustin eine Art modernen Robinson Crusoe, der sich permanent in einer Art Inseldasein befindet – isoliert von der Welt und doch mitten in ihrem Zentrum. Dieses Zentrum ist in gewissem Sinne kein bestimmter Ort und doch immer ein definitiver. Es heißt Grevesmühlen oder London, Lüttich oder Luxemburg, München oder New York, Warschau oder Istanbul, Kaiserslautern oder Athen. Dies sind nur einige der Orte, von denen dieser ominöse Erzähler, der auch nicht so richtig in eine zu greifende Rolle schlüpfen will, Kontakt mit seinem Freitag – und auch mit uns Lesern – aufnimmt, um am Ende über ein Internetprotokoll mit seinem besten Freund zu kommunizieren.

Wir lernen diesen ominösen Erzähler bei einer Zugfahrt kennen. Er befindet sich auf dem Weg durch das norddeutsche Niemandsland, nach Grevesmühlen – was ganz nebenbei im Land von Augustins Kindheit liegt. Ihm gegenüber sitzt ein Mann, der ihm aufgrund von Dingen auffällt, »die nicht ganz ins Bild passen, eigentlich gar nichts, und dann wiederum zuviel. Zum Beispiel trägt der Mann einen Hut, und zwar deutlich, als ob er sich etwas davon verspräche. In einer allgemein hutlosen Zeit.« Hier deutet sich der Verfolgungswahn bereits an, der den Erzähler ganz selbstverständlich antreibt, durch die Welt zu eilen und dies seinem Freitag (und uns Lesern) zu erklären. Augustins Robinson ist immer vor irgendwem auf der Flucht.

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Ernst Augustin: Robinsons blaues Haus. Verlag C. H. Beck 2012. 330 Seiten. 19,90 Euro. Hier bestellen

Der Grund für diese Paranoia ist – wie kann es bei Augustin anders sein – ebenso simpel wie kompliziert. Im Laufe dieser Robinsonade erfahren wir, dass der Vater des Erzählers nicht nur ein großartiger Geschichtenerzähler war, sondern es als Bankangestellter zu Einigem gebracht hat und seinem Sohn scheinbar ein kleines Vermögen hinterlassen hat. Dass dabei womöglich nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist, schwebt im Verlauf des Romans immer im Hintergrund. Was genau geschehen ist, bleibt in einem geradezu mafiösen Dunkeln.

»Wenn zum Beispiel eine Bank, sagen wir, die BFG, die Bank für Gemeinwesen, zweihunderttausend an die National Westminster in London, 50 Lombard Street sendet, dann tut sie das gar nicht, weder brieflich noch per Kabel oder durch sonst welche telegrafischen Boten. Vielmehr speist sie die zweihunderttausend in ein potentielles Depot ein, ein einzigartiges großes Zahlungsgebäude sozusagen, bestehend aus Milliarden und Abermilliarden Potenzen? Wo sie auf unerklärliche Weise verschwinden. Die Zweihunderttausend. Um aber, das ist die moderne Zeit, auf Abruf wieder zu erscheinen. Wenn man den Code kennt.«

Augustins Erzähler ist natürlich im Besitz dieses begehrten Codes – was dann auch wieder dessen Paranoia erklärt, die er sogleich geschickt umzudeuten weiß. Die Angst, so führt er an einer Stelle aus, sei die edelste Tugend der Fluchttiere, denn sie bewahrt ihnen das Leben. Und so flüchtet sich Augustins Erzähler in edler Geste von Ort zu Ort, ohne dass selbst der aufmerksamste Leser so genau verstehen kann, wie sich diese Ortswechsel genau vollziehen – etwa wenn er sich in einem umgestülpten Badeofen auf den Grund eines Ozeans herablässt, ohne jemals am Meer gewesen zu sein. Räume verwandelt Augustin in Zauberwürfel, die seinen Protagonisten aus der einen Welt in eine neue treten lassen. Dazu passt, dass Augustins Ich-Erzähler an einer Stelle gar erwägt, seinen Wohnsitz auf Schienen zu verlegen. Dies würde den Effekt des Zauberwürfels zumindest in den Bereich des Möglichen heben. Denn so, wie man niemals in den gleichen Fluss steigt, könnte man niemals hinaus in dieselbe Welt treten, befände man sich in einem rollenden Raum.

Augustin kennt das Gefühl des Zelte Abbrechens und immer wieder neu Anfangens gut; als Arzt war er in Afghanistan und Indien, auf Costa Rica und in New Orleans. Das mobile Dasein seines Robinson mag ein wenig dieser Erfahrung des Unterwegsseins nachempfunden sein. Die Ähnlichkeit von Defoes und Augustins Robinson besteht in dem permanenten Schaffen einer Hütte, im ununterbrochenen Werkeln am Wohn-Raum, der sich jeder fixen Definition entzieht. Wohnen lässt sich überall, scheint uns Augustins Robinson sagen zu wollen, ob im Badeofen, einem Luxusappartement oder auf einer einsamen Südseeinsel.

Den Leser führt die Erzählung immer wieder aus der fantastisch-surrealen Welt von Augustins Robinson in das innere Exil namens Fantasie. Augustins Roman verführt immer wieder zum Brückenschlagen. So lässt sich nicht entschlüsseln, ob Augustin mit Namen wie Karamasow und Bloom tatsächlich nicht auf Dostojewski und Joyce verweisen und wirklich nur die Möglichkeit dieses Verweises beim Leser hervorrufen will. Ist der Gedanke an Karl May bei der Erwähnung einer Donnerbüchse tatsächlich s abwegig? Und ist es in Anbetracht einer Robinsonade vermessen, bei »Käpt’n Kuk« an James Cook, den Inselentdecker schlechthin zu denken? Die Grenze zwischen Abbildung und Einbildung ist in Robinsons blaues Haus fließend. Der Roman gerät zum Spiegel, und was nicht kohärent erscheint, fügt der Klebstoff Fantasie zusammen.

Im letzten Kapitel spricht der Erzähler des 85-jährigen Ernst Augustin vom »letzten Haus, dass ich hier baue«. Hier! Man darf dies wörtlich verstehen. Es ist wohl weniger der Erzähler als der Autor selbst, der »hier« spricht und sich, noch im Schreibprozess, bekennt zu diesem letzten Haus, das er aus Wörtern gebaut hat. Dieses Haus ist so federleicht, so spielerisch, so voller Fantasie, dass man sich mit Freude hineinbegibt und es nicht mehr verlassen will.