Literatur, Roman

Der lange Schatten der Vergangenheit

Der Portugiese António Lobo Antunes kratzt mit seinen Romanen am historischen Gewissen seiner Nation. Seine polyfonen Verarbeitungen der traumatischen Erfahrung des südeuropäischen Faschismus wartet noch auf die Anerkennung, die ihnen gebührt.

Den portugiesischen Schriftsteller António Lobo Antunes und seine deutsche Übersetzerin Maralde Meyer-Minnemann verbindet neben der tiefen gegenseitigen Wertschätzung eines über zwanzigjährigen Autor-Übersetzer-Verhältnisses eine geradezu absurde Eigenschaft. Beide haben eine Art Abonnement darauf, immer wieder für einen Literaturpreis in die Favoritenposition gerückt zu werden und ihn dann doch wieder nicht zu erhalten. So wie der inzwischen 70-jährige Lobo Antunes seit Jahren als heißer Anwärter auf den Literaturnobelpreis gilt, wird Meyer-Minnemann immer wieder als eine der hervorragendsten deutschen Übersetzerinnen ins Feld geführt. Für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse war sie in diesem Frühjahr nun schon zum dritten Mal nominiert – zum dritten Mal auch mit einer Übersetzung eines Lobo-Antunes-Romans: 2005 war Elefantengedächtnis als hervorragend übersetzt gelobt worden, 2011 dann Mein Name ist Legion und in diesem Jahr Der Archipel der Schlaflosigkeit. Inzwischen liegt mit Welche Pferde sind das, die da werfen ihre Schatten aufs Meer? bereits die Übersetzung von Lobo Antunes’ zweiundzwanzigstem Roman vor, in dem der portugiesische Autor einmal mehr seine Gesellschaft und ihre historische Traumatisierung psychologisch und metaphysisch durchleuchtet.

António Lobo Antunes: Der Archipel der Schlaflosigkeit. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. btb Verlag 2012. 320 Seiten. 11,99 Euro. Hier bestellen

Aber kommen wir zurück zur in Zeiten des Salazar-Regimes handelnden Geschichte Archipel der Schlaflosigkeit. Dieser Archipel liegt auf einem Landgut in der Nähe von Lissabon. Dort unterhält sich ein in die Jahre gekommener Patriarch gemeinsam mit seinem Verwalter ein kleines Terrorregime. Drei Generationen seiner Familie sowie zahlreiche Bedienstete leben ein halbes Jahrhundert lang unter seiner tyrannischen Herrschaft, aus der es kein Entrinnen gibt. Die Brutalität und Menschenverachtung dieses Despoten zieht sich durch den gesamten Roman, was insofern verrückt ist, als dass er zu Beginn der Erzählung stirbt. Seine Allmacht über diejenigen, die er jahrzehntelang geknechtet hat, bleibt jedoch ungebrochen. Die Überlebenden und Traumatisierten, ja selbst die Toten lässt Lobo Antunes aus ihren persönlichen Perspektiven vom Leben und Leiden auf diesem Gut berichten.

Ein erzählerisches Grundmodell, dass man aus seinem Kanon bereits kennt und auch in seinem neuen Roman wiederfinden wird. Dieser ist südlicher als der Vorgängerroman verortet, in der pittoresk-verschlafenen Agrarregion Alentejo. In Welche Pferde sind das, die da werfen ihre Schatten aufs Meer? wohnen die Leser dem Niedergang einer Stierzüchter-Dynastie bei, die mit der im Sterben liegenden Dona Maria endgültig im Nichts versinken wird. Zuvor hat Donas längst verstorbener Gatte die Familie mit seiner Spielsucht an den Rand des Ruins getrieben. Noch einmal kommen die Kinder der Matrone an ihrem Sterbebett zusammen, aber die kalt-autoritäre Erziehung der Eltern hat nichts hinterlassen, was die schwangere Béatriz, den homosexuellen João und den selbstverliebt-egoistischen Francisco verbinden könnte. Einzig die inzwischen achtzigjährige Bedienstete Mercília ragt wie ein Archipel des Empathischen heraus aus diesem düster-mentalen Totentanz.

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António Lobo Antunes: Welche Pferde sind das, die da werfen ihre Schatten aufs Meer? Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand-Verlag 2013. 448 Seiten. 22,99 Euro. Hier bestellen

Wie die meisten Geschichten des Portugiesen sind auch die beiden jüngsten Romane Lobo Antunes’ von einer atemberaubenden Vielstimmigkeit geprägt. Beim Lesen dieses polyfonen Stream of Conciousness – in gleichem Maße Stil und Inhalt der Erzählung prägend –durchlebt man den ständigen Wechsel der Perspektiven und Ansichten und wird Zeuge des permanenten Spiels mit der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit. Albtraumwandlerisch wirkt dies immer wieder, weil die Ebenen zwischen gelebter Wirklichkeit, vermeintlicher Erinnerung und Trauma verschwimmen. Gepaart mit der immer wieder vorgehaltenen Gewalt innerhalb der gesellschaftlichen Zusammenhänge ist die Lektüre zuweilen eine Zumutung, aber eine, die sich lohnt. Bis zur Unerträglichkeit rückt dem Lesenden der diktatorische Ton des Patriarchen, der jegliche menschliche Regung vermissen lässt, auf die Haut. Maralde Meyer-Minnemann verleiht diese vielen Stimmen in der deutschen Übersetzung von Lobo Antunes jenen Ton, der Identität stiftet und Individualität über die Beliebigkeit triumphieren lässt.

António Lobo Antunes’ Romane sind seit jeher geistreiche Reflektionen der spanisch-portugiesischen Klerikal-Faschismen unter den autoritären Staatsführern Francisco Franco und António de Oliveira Salazar. Die Verarbeitung der südeuropäischen Faschismen in seinen Roman teilt Lobo Antunes mit seinem 2010 verstorbenen Landsmann José Saramago, der in seinem Werk ebenfalls ständig die dunklen Jahre des südeuropäischen Rechtsextremismus verarbeitete. Saramago hat übrigens 1998 den Nobelpreis für Literatur erhalten, im Alter von 76 Jahren. António Lobo Antunes kann also noch hoffen.