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Die Macht von Israels säkularer Mittelklasse

Israels Bevölkerung hat am Dienstag ein neues Parlament gewählt. Ich sprach mit Marianne Zepp, der stellvertretenden Leiterin des Büros der Heinrich Böll Stiftung in Tel Aviv, über den Ausgang der Parlamentswahlen in Israel und die Friedensperspektiven im Nahen Osten.

Beim Urnengang der Israelis am Dienstag hat das rechtsreligiöse Parteienbündnis Likud-Beitenu von Premierminister Benjamin Netanjahu erneut die meisten Stimmen erhalten. Zugleich musste es aber auch die größten Stimmverluste hinnehmen. Für alle Demoskopen überraschend hat der liberale TV-Moderator Jair Lapid mit seiner Zukunftspartei Jesch Atid die zweitmeisten Stimmen eingefahren. Der nationalkonservative IT-Millionär Naftali Bennett, der neue Hoffnungsträger der Ultrareligiösen, war hingegen nicht so erfolgreich wie erwartet. Seine nationalreligiöse Partei Habait Hayehudi belegte hinter der liberalen Arbeitspartei lediglich Rang vier.

Frau Zepp, es besteht Uneinigkeit, wer aus diesen Wahlen als Sieger hervorgegangen ist. Wer ist ihrer Ansicht nach der große Sieger dieser Wahlen?

Man kann davon ausgehen, das Jair Lapid mit dem überraschenden Erfolg seiner Partei als Sieger angesehen wird, denn mit diesem Ergebnis hat keiner gerechnet.

Kann man aus dem Erfolg von Lapids liberaler Partei Jesch Atid schließen, dass der rechtsnationale religiöse Flügel in Israel nachhaltig an Zustimmung verliert?

Davon würde ich nicht ausgehen. Wenn Sie sich die Wahlergebnisse in Jerusalem oder in anderen Orten ansehen, dann wird deutlich, dass die Religiösen, die Ultrareligiösen und die Nationalreligiösen durchaus noch in der Lage sind, in einigen Bezirken an Stimmen zu gewinnen. Die religiösen Parteien haben in dem Sinne auch nicht verloren, sondern ihr Ergebnis ist gleich geblieben. Man kann allerdings feststellen, das bei dieser Wahl die Mittelklasse, und das heißt in diesem Fall die liberal gesinnte säkulare Mittelklasse, stärker von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht hat und zu den Wahlen gegangen ist, als zuletzt. Das scheint mir ein Trend zu sein.

Ist das ein Zeichen für die immer stärker spürbare Spaltung in der israelischen Gesellschaft?

Ich glaube, davon kann man ausgehen. Also ja, durchaus.

Welche gesellschaftliche Stimmung, welche Interessenlagen stecken hinter diesem Wahlergebnis? Ist es eher innenpolitisch, also sozialpolitisch und ökonomisch, begründet oder eher auf außen-, sprich sicherheitspolitische Sorgen zurückzuführen? Was bewegt die Menschen in Israel am meisten?

Der Ausgang der Wahlen und die Verteilung der politischen Stimmen haben eindeutig bewiesen, dass die Menschen eher wirtschafts- und sozialpolitische Fragen bewegen. Es war zum ersten Mal offensichtlich, dass das Sicherheitsbedürfnis, also der Nahostkonflikt, nicht die entscheidende Rolle bei der Stimmabgabe gespielt hat. Benjamin Netanjahu hat in diesem Wahlkampf die Iranfrage sehr zurückgestellt und sich auf sozialpolitische Fragen konzentriert und beschränkt. Das wurde auch so wahrgenommen.

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Aus der europäischen und deutschen Perspektive hat man derzeit den Eindruck, dass in Israel selbst derzeit viele grundsätzliche Fragen diskutiert werden. Die israelische Soldatenorganisation »Breaking the Silence« etwa konfrontiert die Nation mit den alltäglichen Untaten Israels als Besatzungsmacht im Westjordanland. Viele Grundannahmen scheinen infrage gestellt. Spiegelt das den inneren Zustand der jüdischen Nation und ihres Selbstverständnisses?

Soweit würde ich nicht gehen. Die Soldatenorganisation »Breaking the Silence« ist sehr marginal. Das heißt nicht, dass sie moralisch nicht im Recht sind. Als Subtext schwingt die Frage der Besatzung immer mit. Dennoch hat keine der Parteien, die bei diesen Wahlen gewonnen haben, die Frage in den Vordergrund gestellt. Was aber unmissverständlich klar ist, ist dass die Frage der Besatzung und ihres Umgangs eine ganz entscheidende Rolle spielt. Dass die Vorgängerregierung und die Siedlerbewegung in der vergangenen Legislaturperiode entscheidenden Einfluss auf die Politik hatten, ist offensichtlich nicht im Sinne der Mehrheit hier im Lande.

Ob man deshalb von einer Spaltung des Landes sprechen kann, da bin ich mir nicht ganz sicher. Die würde ich eher in einem längerfristigen Prozess vermuten: Wenn Sie auf die demoskopische Entwicklung schauen, dann wird deutlich, dass die Religiösen aufgrund der höheren Kinderzahlen auf dem Vormarsch sind. Was deutlich wird, ist dass der liberale Zionismus im Augenblick versucht, sich neu zu orientieren. Durch Personen wie den Nationalreligiösen Naftali Bennett wird die Vorherrschaft des linksliberalen Zionismus angegriffen.

Sie haben bereits anklingen lassen, dass die Außenpolitik in diesem Wahlkampf nur eine marginale Rolle gespielt hat. Dennoch die Frage nach der Rolle der politisch und gesellschaftlich unsicheren Zustände in Israels arabischen Nachbarstaaten sowie die weiterhin existierende Bedrohung durch den Iran im politisch-gesellschaftlichen Diskurs?

Für einen Europäer mag das sehr überraschend sein, aber die Umstände in den Nachbarstaaten spielen hier eine sehr geringe Rolle. Die Bedrohung durch Syrien und die Entwicklung des Konfliktes in Syrien wird in Israel kaum wahrgenommen. Auch der Iran, der von Netanjahu teilweise als Schreckgespenst an die Wand gemalt wurde, hat weder bei der Wahl noch im Wahlkampf eine entscheidende Rolle gespielt. Man verschließt in gewisser Weise auch die Augen vor diesen Entwicklungen und hofft, dass sie Israel nicht betreffen. Auf der anderen Seite weiß man aber auch, dass man die Grenzen dicht machen und sich schützen muss. Aber eine zentrale Rolle in der politischen Debatte spielt das aktuell nicht.

Besorgt die Islamisierung Ägyptens niemanden in der israelischen Gesellschaft? Ägypten galt schließlich lange Zeit als verlässlicher Partner in der Region.

Ägypten wird natürlich beobachtet. Es gibt Befürchtungen, dass man sich nicht mehr in dem Maße auf Ägypten verlassen kann. Andererseits hat Ägyptens Präsident Mohammed Mursi aber auch eine ganz entscheidende Rolle am Ende des letzten Gaza-Krieges gespielt. Aber auch dieses Thema ist hier momentan alles andere als zentral.

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Nun kann man zwei Tage nach den Wahlen noch immer nur Mutmaßungen anstellen, aber welche Koalition halten Sie jetzt für wahrscheinlich und welchen Weg wird diese einschlagen?

Da kann man im Augenblick tatsächlich nur sehr gewagte Prognosen abgeben. So wie es aussieht, hat Benjamin Netanjahu den ersten Schritt auf Jair Lapid zugemacht. Also die Koalition zwischen diesen beiden bzw. drei Parteien scheint im Moment sehr wahrscheinlich, aber das Problem besteht darin, dass auch diese Koalition noch keine Mehrheit in der Knesset erreicht. Die große Frage wird sein, und hier wage ich keine Diagnose, ob sich diese Koalition nach rechts wendet und eine Partei wie Schas mit ins Boot holt, oder ob sie nach links geht und sich in diesem Lager einen weiteren Partner sucht. Wohin der Weg führt, werden die nächsten Tage zeigen. Beide Parteien haben angekündigt, dass sie die Frage des Militärdienstes für Ultraorthodoxe auf die Agenda der Gespräche setzen wollen, was eher dafür spricht, das man auf die Religiösen zugehen wird. Aber sicher ist das nicht. [Ultraorthodoxe Israelis sind vom Militärdienst freigestellt, was Israel aufgrund des enormen demografischen Wachstums dieses Bevölkerungsteils vor demokratische Probleme stellt. A.d.A.]

Und man darf die dritte Perspektive nicht vergessen, nämlich die Frage, wie die Koalitionsbildung außenpolitisch bewertet wird. Das zwar nicht gestörte, aber doch von einigen Differenzen geprägte Verhältnis zu der derzeitigen amerikanischen Administration wird diese Entscheidung sicher mit berühren. Denn die außenpolitische Glaubwürdigkeit, dass ist hier auch angekommen, braucht dringend Unterstützung.

Diese außenpolitische Glaubwürdigkeit hat vor allem durch das Verhalten der letzten Netanjahu-Regierung gegenüber den Palästinensern gelitten. Wie stehen jetzt die Chancen für eine Wiederaufnahme der Gespräche mit den Palästinensern bezüglich einer Lösung des Nahost-Konflikts. In den letzten drei Jahren rechtskonservativer Außenpolitik unter Benjamin Netanjahu und Avigdor Lieberman wurde vor allem der Siedlungsbau im Westjordanland vorangetrieben.

Das hängt stark vom Engagement der USA hier in der Region ab. Wenn von Seiten der USA ernsthafter Druck ausgeübt wird, kann sich auch eine Regierung Netanjahu-Lapid Gesprächen mit den Palästinensern nicht ganz verschließen.

Experten sprechen bereits von einem Scheitern der Zwei-Staaten-Lösung. Wie wird das in Israel selbst diskutiert?

Das wird in Israel tatsächlich ähnlich debattiert. Die Hoffnung, dass es zur Wiederaufnahme von Gesprächen kommt, besteht nach wie vor besonders auf der Seite der politischen Linken, aber im Großen und Ganzen glaubt hier niemand mehr so richtig an den Oslo-Prozess. Es müsste also einen Neubeginn geben.

Was kann Deutschland und Europa tun, um den Frieden im Nahen Osten zu fördern und voranzutreiben?

Der Hauptakteur hier in der Region, der von außen Einfluss nehmen kann, sind die USA. Darüber muss man sich im Klaren sein. Aber die Bundesregierung scheint mir nicht auf so einem schlechten Weg zu sein. Auf der einen Seite signalisiert sie, dass man mit Israel solidarisch ist. Ich glaube, das ist als Vorbemerkung immer notwendig. Auf der anderen Seite erinnert sie auch immer daran, dass sie die Zwei-Staaten-Lösung gern stärker im Mittelpunkt sehen würde und es entsprechende Überlegungen dazu geben muss. Vor allem muss die Bundesregierung weiter deutlich machen, dass Regierungsunterstützungen der Siedlungen nicht tragbar sind.

Frau Zepp, vielen Dank für das Gespräch.