Film, InSzeniert

Berlinale Bites: Im Wartesaal zur Unterwelt

In Yannis Economidis kuriosem Mix aus Sozialdrama und Actionfilm bildet das wirtschaftlich am Boden liegende Griechenland die Kulisse für das Porträt einer verkommenen Gesellschaft.

Ein Typ wie Stratos (Vangelis Mourikis) fehlte der Berlinale bislang noch. Nachts gibt er den gehorsamen Fließbandarbeiter in einer Großbäckerei, am Tag ist er als Profikiller aktiv. Die Aufträge bekommt er von einem Typen, den er nur den »Maler« (Yannis Anastasakis) nennt. Das Geld gibt er meist bei Yorgos (Yannis Tsortekis) ab, einer Art Bandenchef im Kleinformat, der mit ein paar anderen Leuten einen Tunnel gräbt. Dieser Tunnel führt unter das Gefängnis, in dem Yorgos Bruder Leonidas einsitzt, einer der wichtigsten Köpfe in der skurrilen Unterwelt, die Yannis Economidis in seinem vierten Spielfilm To Mikro Psari zeichnet. Dessen Gegenspieler ist der bohemehafte Petropoulos (Yorgos Yannopoulos), der nur allzu gern Leonidas Geschäfte übernehmen will. Wenn Petropoulos gerade nicht seinen windigen Geschäften nachgeht, dann vergnügt er sich mit Vicky (Vicky Papadopoulou), der Schwester des körperlich geschlagenen und überschuldeten Makis (Petros Zervos). Beide wohnen in Stratos Nachbarschaft, weshalb sich dieser liebevoll um Vickys Tochter Katerina kümmert. Womit der Kreis, in dessen Mitte sich weitere Kleinkriminelle befinden, geschlossen wäre.

Man braucht eine Weile, ehe man dieses komplexe Netzwerk an Personen und Verhältnissen durchsteigt, zumal man anfangs versucht ist, Stratos Auftragsmorde mit einer möglichen finanziellen Notlage zu erklären. Denn ein wenig heruntergekommen sieht der Ex-Knacki schon aus. 18 Jahre hatte er wegen einem Mord aus Liebe eingesessen, unter der schützenden Hand vom Boss aller Bosse Leonidas. Dieser soll nun in einem großen Coup befreit werden – zumindest ist das der Plan von Yorgos. Für diesen vermeintlichen Coup braucht es Geld, welches Stratos mit den Auftragsmorden verdient. Pflichtbewusst und ungerührt geht er dabei vor, als hätten diese Morde nichts mit ihm zu tun.

Nachdem im vergangenen Jahr die Finanzkrise eine zentrale Rolle im Programm der Berlinale einnahm, haben in diesem Jahr die Folgen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs die Storyboards erklommen. Das ökonomisch am Boden liegende Griechenland ist die Kulisse für Yannis Economidis kuriosen Mix aus Sozialdrama, Actionfilm und Thriller namens To Mikro Psari.

Nichts in diesem Film hat eine erbauliche oder motivierende Seite, an der man sich als Zuschauer hochziehen könnte. Die Landschaften, die Zustände, die Menschen – alle wirken geschunden, schmierig und marode. Öffentliche Plätze sind zu urbanen Brachlandschaften verkommen, die Natur ist zugemüllt. Gebäude wirken von außen wie von innen heruntergekommen, Felder und Straßen liegen unter einem undurchdringlichen Nebel versteckt. Die Unterwelt braucht ihre Intransparenz.

© Falirohouse Productions

Auch moralische Grundwerte wie Rücksichtnahme, Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe sind in dieser würdelosen Nicht-Gesellschaft längst abhanden gekommen. Ordnungshüter oder Polizisten kommen hier nur als dummdreist lächelnde Zaungäste vor. Economidis’ Griechenland wirkt wie der Wartesaal zum Hades.

Der Film lebt von dem in sich gekehrten, aber gerade dadurch überaus präsenten Stratos. Während sich alle anderen Figuren unablässig wiederholen und damit einen monotonen Einheitsbrei an Schimpftiraden und Wutanfällen ohne Eindruck produzieren, setzt der weltabgewandte Stratos die bedeutenden Akzente mit den wenigen Sätzen, die er spricht. Verstärkt wird dies von seinem eindringlichen Blick, der bis in die Köpfe seiner Gesprächspartner hervordringt.

Es passt zum skurrilen Konzept dieses Wettbewerbsbeitrags, dass neben der minderjährigen Katerina ausgerechnet der zuverlässig mordende Stratos der letzte Hort von Anstand und Moral ist. Dass die großen Fische die kleinen fressen, damit kann er sich abfinden. Aber wenn die kleinen anfangen, sich gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen, hört für Stratos der Spaß auf. Ab einem bestimmten Zeitpunkt nimmt er die Dinge selbst in die Hand, um die vollkommene Dystopie abzuwenden.

Diese kündigt sich mit der gleichgültigen Ankündigung an, dass Vicky und Makis beschlossen hätten, die kleine Katerina für eine Nacht an Petropoulos zu verkaufen, der »ganz spitz auf die Kleine« sei. Dafür würde dieser den verschuldeten Geschwistern die Hälfte ihrer Schulden auf einen Schlag erlassen. Doch dieses Vergehen an einem unschuldigen Kind kann Stratos unmöglich geschehen lassen.

Nachdem Stratos die Apokalypse in seiner Welt hat abwenden können, sieht man ihn auf einer Parkbank sitzen – lethargisch, gleichgültig, müde. So einfach sind gesellschaftliche Zustände nicht zu ändern.