Film, InSzeniert

Berlinale Bites: Der Mann im Kind

Die Jury der 64. Berlinale sollte erwägen, einen Sonderbären für den besten Act unter 16 Jahren zu vergeben. Mit dem elfjährigen Ramasan Minkailov in dem Österreichischen Sozialdrama »Macondo« gäbe es einen weiteren Kandidaten, der für diese Auszeichnung in Frage käme.

Der elfjährige Ramasan (Ramasan Minkailov) ist seinem Alter voraus. Als großer Bruder kümmert er sich verantwortungsvoll um seine jüngeren Schwestern, im Haushalt unterstützt er seine Mutter (Kheda Gazieva), die als Witwe eines tschetschenischen Kriegshelden allein zurechtkommen muss. Die Familie lebt in dem Flüchtlingsheim Macondo am Rande Wiens, eingeklemmt zwischen Ausfallstraßen, Flughafen und Donauufer.

Ramasan hat hierseinen festen Platz, ist unter den Kindern und Jugendlichen anerkannt und respektiert, für die Familie ist er das Sprachrohr nach außen. In seiner Rolle als Mann im Haus strotzt er vor Selbstbewusstsein. Einzig die Wölfe in den Wäldern hinter dem Flüchtlingsheim am Rand Wiens, in dem die Familie lebt, machen dem Jungen Angst. Es sind die heulenden Geister der Vergangenheit, die Erinnerungen an die Flucht durch die kaukasischen Wälder, die sich nachts bei ihm melden.

Eines Tages bekommt diese Vergangenheit eine konkrete Gestalt. Der stille Isa (Aslan Elbiev) taucht in Macondo auf, bringt der Familie Erinnerungsstücke an den Vater mit. Isas Verbindung zu Ramasans Vater sowie seine Fürsorge für den Jungen lassen die beiden näher kommen. Einzig Ramasans Verehrung des Vaters verhindern, dass sich dieser vollkommen auf Isa einlassen kann.

Das Idealbild des Vaters bekommt allerdings Risse. Als er ein Gespräch seiner Mutter belauscht, erfährt der Junge, dass diese den Vater nie geliebt habe, sondern nach tschetschenischer Tradition von diesem entführt worden sei. Auch Isa schließt sich der Vergötterung des Kriegshelden nicht umstandslos an, sondern erklärt Ramasan, dass auch sie viele Fehler und Dummheiten gemacht haben. Beide Informationen verstärken die Skepsis des Jungen, was das Verhältnis zwischen seiner Mutter und Isa betrifft. Die deutsche Regisseurin Sudabeh Mortezai porträtiert in ihrem ersten Spielfilm einen muslimischen Jungen, der zwischen die Mühlräder von Ideal und Wirklichkeit, Erwartungshaltung und Realisierung gerät.

Macondo hat inhaltliche Überschneidungen mit den bereits im Wettbewerb gelaufenen Beiträgen Jack und Zwischen Welten. Die Figur des elfjährigen Ramasan erinnert in ihrer Rolle als fürsorgender Sohn und Bruder stark an den zehnjähren Jack, den Edward Berger in seinem gleichnamigen Sozialdrama porträtiert hat. Sudabeh Mortezai lässt ihren Kindercharakter aber brüchiger erscheinen, lässt ihm nicht die allgegenwärtige Vernunft angedeihen, die Berger dem zehnjährigen Jack zugeschrieben hat.

Ramasan begeht im Laufe des Films einige Bagatelldelikte, die für sich genommen unproblematisch wären, wenn sie nicht das laufende Asylverfahren gefährden würden. Es geht ihr dabei nicht um die Zuschreibung eines Klischees, sondern um die Diskussion der Asylverfahren in Europa. Von Anfang an schwebt über der Familie das Damoklesschwert der Abschiebung. In der Thematisierung der Asylproblematik liegen die Ähnlichkeiten zu Feo Aldags Zwischen Welten, mit dem Unterschied, dass Mortezai dieses System vom Landesinneren und Aldag vom Ausland aus betrachtet. Gemeinsam ergeben beide Filme eine realistische Studie der tatsächlichen Konsequenzen der europäischen Flüchtlingspolitik.

Ramasan Minkailov spielt seine Rolle ausdrucksstark, die Last der Verantwortung für seine Familie ist stets spürbar. Zugleich wandelt er scheinbar spielerisch zwischen seinen Rollen als Familienoberhaupt, Kriegsheldenerbe und Kind. Er reiht sich mit dieser beeindruckenden Leistung ein in die bleibenden Eindrücke, die Ellan Coltrane als kindlicher Mason, Lea von Acken als Maria auf dem Kreuzweg oder Ivo Pietzker als tapferer Jack hinterlassen haben. Sie könnten die Stars von morgen sein, eine Anerkennung ihrer Leistung – abseits des Vergleichs mit Schauspielern wie Forest Whittaker, Jack O’Donnell, Ethan Hawke, Patricia Arquette oder Uma Thurman – wäre keine schlechte Idee.