Literatur, Roman

Zwischen Revolution und Krise

Ein Fußtritt des Vaters ist das auslösende Moment in Mathias Énards Abenteuerroman »Straße der Diebe«, mit dem der 20-Jährige Lakhdar direkt auf eine Bahn befördert wird, die ihn bis nach Barcelona bringt. Dort wird er vor eine verhängnisvolle Entscheidung gestellt.

Eines der stärksten Gefühle in der arabischen Welt ist die Schande. Von ihr will man seine Nächsten verschonen. Als Lakhdar von seinem Vater per Fußtritt vor die Tür des elterlichen Hauses befördert wird, nachdem der ihn beim heimlichen Liebesspiel mit seiner Cousine erwischt hat, kommt es nicht infrage, dass er in den Schoß seiner Familie zurückkehrt. Ganz im Gegenteil wendet er ihr den Rücken zu und stellt sich der Welt in einem unfreiwilligen Parforceritt, der den Leser 350 Seiten in Atem hält.

Lakhdar, der an den Ausläufern der marokkanischen Touristenhochburg Tanger groß geworden ist, irrt daraufhin zwei Jahre lang durch das Land und hält sich mit Hilfsarbeiten, Prostitution und Bettelei über Wasser. Selbst wenn in Tanger die Hoffnung auf ein besseres leben mit dem Blick auf die andere Seite des Mittelmeers immer gegenwärtig ist, kann man daraus keinen Roman stricken. Der Franzose Mathias Énard, dessen neuer Roman nach seiner großartigen Mittelmeerhistorie Zone sehnsüchtig erwartet wurde, greift daher tief in die Trickkiste. Denn er lässt seinen Romanhelden auf seinen Jugendfreund Bassam treffen, der ihn in eine salafistische Moschee bringt, wo Lakhdar zum Verwalter der islamistischen Literaturbestände wird. Die Motive seines Engagements sind vielmehr persönlich als politisch. Alles andere würde zu dem lebensdurstigen Entwurf dieses jungen Mannes auch nicht passen. »Es ist sehr schwierig, der Erbärmlichkeit zu widerstehen bei der ständigen Demütigung, in der uns das Leben festhält«, lässt Énard seinen Helden zu sich sagen.

Während Lakhdar bei den Salafisten aktiv ist, vollziehen sich in Marokko tiefgreifende gesellschaftspolitische Veränderungen, in deren Strudel er gerät. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn Lakhdar wird zum Getriebenen der Ereignisse. Zufälle und Schicksalsschläge  sind es, die den Marokkaner zum Handeln zwingen. Sein Leben selbst in die Hand nimmt er nur selten. In der Mitte des Romans findet man das Motto für diese Haltung: »Wir leiden hier, halten uns aber gut.«

Énard_24365_MR.indd
Mathias Énard: Straße der Diebe. Hanser Berlin 2013. 340 Seiten. 19,90 Euro. Hier bestellen

Die Ereignisse des arabischen Frühlings bilden eines von zwei Gegenwartspanoramen, vor denen sich Énards Erzählung abspielt. Das andere ist die Wirtschaftskrise in Spanien, wohin es den jungen Lakhdar über mehrere Umwege verschlägt. Der in Barcelona lebende Franzose versucht in Straße der Diebe Fiktion und eine fast tagesaktuelle Realität miteinander zu verbinden, was beim Leser immer wieder auch für Verwirrung sorgt. Wieso geht einer, der sich mit hübschen Touristinnen vergnügt, ohne Bedenken zu einer fanatischen religiösen Gruppe? Warum verlässt jemand seine Heimat, wenn sich in dieser gerade ein politischer Erdrutsch ereignet, der die eigenen Erwartungen und Hoffnungen erfüllen könnte? Wenn Énard die Inkonsistenzen der menschlichen Existenz, ihre Widersprüche und Absurditäten, demonstrieren will, dann gelingt ihm das in diesem Roman vorzüglich – allerdings zulasten des Lesers, der großzügig so manche Brücke für sich schlagen muss.

In Spanien findet sich Lakhdar in der Carrer Robadors wieder, die dem Roman seinen Titel gibt. Hierhin hat er sich ohne Papiere in die Arme der jungen Spanierin Judit geflohen – vor der familiären Schande, den wütenden Islamisten und letztendlich auch vor der Welt. Diese bricht mit Judits Engagement bei den Protesten der arbeitslosen spanischen Jugendlichen wie ein Zufall erneut über ihn herein. Lakhdar wird in Spanien mit den Aufständen der Jugend konfrontiert.

Der Roman liest sich in dieser Anbindung an die Realität teilweise wie eine Art nachgereichter Live-Kommentar, in den die arabische Hochliteratur eingebunden ist. Verweise auf Nagib Mahfuz, Mohamed Choukri und die arabische Reiseliteratur finden sich zwischen den Beschreibungen der Proteste und des politischen Denkens. Man könnt es bei diesem angereicherten Doppelporträt einer Jugend diesseits und jenseits des Mittelmeers belassen und die Perspektiven vertiefen. Énard dreht die erzählerische Schraube aber noch um eine Umdrehung weiter, indem er Bassam in Barcelona auftauchen lässt, der mutmaßlich ein Attentat plant. Lakhdar muss sich entscheiden zwischen zwei Gesellschaften, die ihn beide nicht haben wollen – die eine, weil er zu modern ist, die andere, weil sie ihn für hinterwäldlerisch hält.

»Die Menschen sind Hunde mit leerem Blick, sie wandern im Halbdunkel im Kreis, rennen einem Ball hinterher, streiten um ein Weibchen, um einen Platz in der Hundehütte, sie liegen stundenlang mit heraushängender Zunge da und warten darauf, dass man ihnen mit einer letzten zärtlichen Geste des Genick bricht«, heißt es am Ende dieser kriminalistischen Abenteuerfahrt, die in dem Versuch, die Überkomplexität der Wirklichkeit einzufangen, auf überaus hohem Niveau scheitert.

4 Kommentare

  1. […] Leser:in einen eigenen Weg finden. Sabine Müller und Holger Fock, die als Übersetzungstandem das Werk von Goncourt-Preisträger Mathias Énard regelmäßig in ein klingendes Deutsch übertragen (im Frühjahr erscheint sein neuer Roman »Der […]

Kommentare sind geschlossen.