Essay, Fotografie, Sachbuch

Das Eigenleben der Fotografie

Die Auseinandersetzung mit der Fotografie dringt mehr und mehr in den Vordergrund der allgemeinen Kulturdebatte. Schon die kulturwissenschaftliche Studie des Gesichts von Hans Belting, die im vergangenen Jahr für den Leipziger Messepreis in der Kategorie Sachbuch nominiert war, basierte zu großen Teilen auf Fotografien. In diesem Jahr könnte mit Helmut Lethens »Der Schatten des Fotografen« ein kulturwissenschaftliches Buch zur Wirklichkeit der Fotografie den Preis gewinnen.

Was sehen Sie auf der oben abgebildeten Fotografie? Sie sehen einen Kämpfer vor einer leeren Landschaft, der rückwärts, das Gewehr ihm aus der Hand gleitend, zu Boden fällt. Die Gesichtszüge scheinen entspannt, die Augen geschlossen. Die Schwarz-Weiß-Fotografie lässt jedoch wenige Rückschlüsse auf den Zeitpunkt der Aufnahme zu. Die Kleidung des Mannes spricht für die Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Andere mögen wissen, dass es sich bei dieser Aufnahme um eine Ikone der Fotografie handelt. Der Magnum-Fotograf Robert Capa hat sie während des spanischen Bürgerkriegs gemacht. Sie trägt den Titel Loyalist Militiaman at the Moment of Death, Cerro Muriano, September 5, 1936. Nach Auskunft von Capa handelt es sich um einen spanischen Republikaner, den er in dem Moment fotografiert hat, als ihn eine Kugel in den Kopf traf. Die Aufnahme kursiert heute als The Falling Man durch die Geschichte der Fotografie. Sehen aber kann man das nicht.

Noch viel weniger kann man sehen, dass The Falling Man auch als Dokument des Betrugs erkannt werden könnte. Denn Capas Aufnahme ist eine vom Thron gestürzte Ikone. Es spricht mindestens genauso viel für eine gestellte Situation, wie für einen zufälligen Schnappschuss. Weder in der von Brigitte Lardinoir herausgegebenen Sammlung MAGNUM MAGNUM (Schirmer Mosel) noch in der von Peter Coeln, Achim Heine und Andréa Holzherr editierten Zusammenstellung der ersten Arbeiten der Gründer-Generation der berühmtesten Fotoagentur MAGNUM’S first (Hatje Cantz) taucht das Bild unter den Capa zugeordneten Fotografien auf. Zu schwer wiegt der Verdacht.

»Was immer auf der Bildfläche erscheint, es stellt sich die Skepsis ein, ob das, was zu sehen ist, nicht nur Fake, Konstruktion oder zumindest eine manipulierte Form der Wirklichkeit sei«, schreibt der Kulturwissenschaftler und Germanist Helmut Lethen zu Beginn seines Essays Der Schatten des Fotografen.

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Aber hat nicht jede Fotografie ihre eigene Aussage und eigene Evidenz? Ist sie als dokumentarisches Medium nicht gar der Beleg von Wahrhaftigkeit in einer Welt voller Täuschung? Auf knapp 250 Seiten stürzt Lethen diese Annahmen und reißt einige Bildikonen von den hohen Sockeln, auf die sie als »symbolische Bilder der Imagination« im Laufe der Zeit gestellt wurden.

Einen kritischen Umgang mit der Fotografie haben vor Lethen schon Walter Benjamin und Siegfried Kracauer angemahnt. Kracauer etwa hatte in den 1920er Jahren die teils bis zur Unkenntlichkeit verschwommenen Fotografien als undurchdringliches »Schneegestöber« bezeichnet, hinter dem sich das Unbekannte verberge. Benjamin machte 1939 mit Das Kunstwerk in Zeiten der technischen Reproduzierbarkeit der besonderen Aura des Originals ein Ende und sprach davon, dass die menschliche Sinneswahrnehmung »nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt« sei.

Zu den Verfechtern der Medienskepsis gehörte ursprünglich auch der französische Philosoph Roland Barthes. In seinen Mythen des Alltags machte er deutlich, dass ein stabiles Erfassen der Wirklichkeit unmöglich sei. »Wir gleiten unaufhörlich zwischen dem Objekt und seiner Entmystifizierung hin und her, unfähig, seine Totalität wiederzugeben.« Die Realität sei nur in kleinen Details sichtbar, in den »Wirklichkeitssplittern«, meinte Barthes Mitte der 1950er Jahre.

Knapp zwanzig Jahre später vollführte Barthes nach dem Tod seiner Mutter eine 180-Grad-Wende. In seinem Tagebuch der Trauer sowie in Die Helle Kammer proklamierte er das »Erwachen der unbeugsamen Realität« in der Fotografie, deren Wesen plötzlich »in der Bestätigung dessen, was sie wiedergibt« bestehen soll. Da ist man dankbar noch Hans Beltings die Gemüter kühlenden Kommentar von den »heißeren und kühleren Zonen unserer Einbildungskraft« im Ohr zu haben, durch die die Bilder unablässig zirkulieren.

Migrant Mother | Dorothea Lange
Migrant Mother | Dorothea Lange

»Bilder, auch die der Verlassenheit, sind Nomaden, die ihre Zelte in verschiedenen Medien aufschlagen.« Dieser Satz aus Beltings Bild-Anthropologie begleitet Lethen bei seiner Untersuchung der Bilderwelten des 20. Jahrhunderts auf ihren Wirklichkeitsgehalt. Lethen führt dabei die Beweise für Beltings gesunde Skepsis gegenüber den Bildern in den Medien. Etwa anhand der Ikone Migrant Mother von Dorothea Lange, dem Bild zur Großen Depression in den Vereinigten Staaten. Ursprünglich als Dokument des Elends in den USA publiziert, rückte Edward Steichen die Fotografie in seiner MoMA-Schau The Family of Man in den Kontext der allgemeinen menschlichen Tragödie: »What region of the earth is not full of our calamities?« Persönlich wird die Deutung der Aufnahme erst wieder, als die sich am Rande des Ruins befindliche Abgebildete 1978 klagt, dass das Bild ein Eigenleben führe, von dem sie nicht gleichermaßen profitiert habe. Dazu kommt auch hier eine Debatte, ob das Bild gestellt ist oder nicht. Darüber hinaus tauchen im Laufe des 20. Jahrhunderts Belege einer Retusche auf, die die Einordnung des Motivs der leidenden Mutter in die ikonografische Tradition der Marienbilder erleichtern sollte.

Diese ständigen »Spiralen aus Mythisierung und Aktualisierung« prägen den Blick auf die Fotografie und damit ihre Wirkung auf uns. Dies beschreibt Lethen auch anhand der zwei Wehrmachtsausstellungen, die Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre die Gemüter erregt haben. An der ersten Ausstellung wurde kritisiert, dass man die schonungslosen Fotografien von Wehrmachtsverbrechen ohne einen schriftlichen Kontext gelassen und damit »die Dominanz der Bilder zugelassen« habe. Die fehlerhafte Annahme der quasi kriminalistischen Funktion der unkommentierten Fotografie als »Evidenzbeschaffer« wendete das eigentliche Verdienst der ersten Wehrmachtsausstellung, das im Aufzeigen des Barbarischen bestand, gegen sie selbst.

Die Schau sei nicht zumutbar, weil sie Barbarisches zeige (und damit belege), so die perfide Logik damals. Dabei wusste schon Hannah Arendt, dass die kriminologische Beweisführung durch Bilder während des Frankfurter Auschwitz-Prozesses nicht die ganze Wahrheit über die Vernichtungslager aufdecken könne. Dass dann ausgerechnet die eingesetzte Historikerkommission, mit der Bewertung der abgebrochenen ersten und dem Entwurf einer neuen zweiten Wehrmachtsausstellung beauftragt, kriminologische Kriterien an die verwendeten Fotos ansetzte, ist aus Lethens Sicht fatal. Denn »Bilder sind durch die Aufgabe, als Dokumente mit Beweischarakter im juristischen Sinne zu agieren, überfordert. Wenn es um die Klärung von Schuld geht, brauchen wir Sprache.«

Helmut Lethen: Der Schatten des Fotografen. Rowohlt Berlin 2014. 272 Seiten. 19,95 Euro. Hier bestellen

Lethens Buch über die Wirklichkeit der Bilder belegt anhand der Geschichten hinter einigen Bildikonen des 20. Jahrhunderts genau das: Kein Foto spricht für sich, Fotografien beziehungsweise Medien im Allgemeinen stehen im »dröhnenden Kontext der Welt«. Sie tragen eine Situation, eine Geschichte und eine kulturelle Verarbeitung mit sich, die wir entweder gedankenlos abschütteln oder hochmütig gar nicht erst mitdenken. Sei es das Bild einer durch den Don watenden Frau oder der lange Schatten des Fotografen über der Schlucht von Babi Jar – hinter dem Sichtbaren des Bildes verbirgt sich das Unsichtbare des Zusammenhangs. Das vermeintlich Harmlose bildet oft das abgrundtiefe Grauen ab, die dunkle Ahnung verstellt meist den Blick auf das erhellend Naheliegende und das unvorstellbar Groteske.

Umgehen kann man dies nur durch das Berücksichtigen der »Hinterwelt der Zusammenhänge«, sonst droht die Anmutung des Augenscheins alle Wahrheit zu vernichten: »Der Schock des Bilds muss in einen Erfahrungsbereich eindringen können, der den Schock vielleicht abfedert, verdrängen hilft, unschädlich macht oder ihn erst auslöst.«

Der Glaube an die Abbildung des Wirklichen auf einer Fotografie muss, das wissen wir nach der Lektüre von Lethens Der Schatten des Fotografen, ersetzt werden von dem Wissen um die Einbettung des Abgebildeten in einen diskursiven Handlungsraum, in dem Skepsis ein guter Geselle ist.

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