Literatur, Roman

Porträt einer versehrten Generation

Amin Maalouf hat mit »Die Verunsicherten« eine versöhnliche Ode an seine Generation der Verlierer und Besiegten geschrieben, die sich auf der Suche nach einem Neuanfang in der Welt verloren hat. In seinem Roman versucht er diese Verunsicherten noch einmal zusammenzuführen.

»Alles, was mit Gewalt in Berührung kommt, wird erniedrigt, welcher Art auch immer die Berührung ist.« Diesen Lehrsatz der französischen Philosophin Simone Weil hat der in Frankreich lebende libanesische Schriftsteller Amin Maalouf seinem neuen Roman Die Verunsicherten vorangestellt. Im Mittelpunkt dieses Romans in Rückblenden steht Adam, den der Tod seines Jugendfreundes Murad nach über 30 Jahren in sein von Kriegen geschütteltes Heimatland zurückkehren lässt. In der ebenso vertrauten wie fremd gewordenen Umgebung holen ihn seine Erinnerungen an die ehemaligen Freunde ein.

Der Ort, an dem dieser Roman spielt, wird auf den über 500 Seiten des Romans nicht ein einziges mal genannt, aber wer Maaloufs Werk kennt, weiß, dass keines seiner Bücher ohne Referenz zu seinem Herkunftsland Libanon auskommt. So spielt dieser Roman in einem nur allzu bekannten Nirgendwo, könnte zu gleich aber auch in jedem anderen Land spielen, in dem einstmals ein Bürgerkrieg eine Gesellschaft zerstört und in alle Winde vertrieben hat. Dabei geht es ihm um das Verstehen der Ereignisse und ihrer Folgen für die Menschen, die sie ereilen, sowie insbesondere darum, endlich eine Antwort auf die Frage an die Generation des Autors zu finden, ob es »um uns herum eine gerechte Sache [gab], die von reinen oder zumindest vertrauenswürdigen Menschen vertreten wurde«?

9783716027028
Amin Maalouf: Die Verunsicherten. Aus dem Französischen von Liz Künzli. Arche-Verlag 2014. 512 Seiten. 26,95 Euro. Hier bestellen

Einer dieser Menschen seiner Generation, womöglich gar sein Alter Ego, ist Adam, der seine Heimat verlassen hat und seit drei Jahrzehnten in Paris lebt. Als Historiker hat er dort Karriere an der Universität gemacht und ist mit der einige Jahre jüngeren Dolores liiert, die als Chefredakteurin ein Magazin auf Vordermann bringen soll. Als Adam erfährt, dass sein alter Freund Murad im Sterben liegt, lässt sie ihn allein in seine Heimat zurückreisen. Obwohl er sich umgehend auf den Weg macht, kommt er zu spät. Als er an der Tür der Familie klingelt, steht vor ihm nicht mehr Murads Frau, sondern dessen Witwe Tania. Kurzentschlossen macht sich Adam auf zu seiner alten Freundin Semiramis, die in den Bergen eine kleine Pension führt. Er quartiert sich bei ihr ein und geht, unterstützt von mitgebrachten Briefen aus den letzten Jahren und einem Tagebuch, seinen Erinnerungen und Gedanken an die Vergangenheit und den ehemaligen Freundeskreis nach.

Da ist etwa Naim, der in einer Nacht- und Nebelaktion nach Brasilien verschwunden ist, weil es seinen jüdischen Eltern zu eng wurde im zunehmend an den religiösen Grenzlinien ausgetragenen Bürgerkrieg. Oder der homosexuelle Albert, der sich schon vor dem Bürgerkrieg umbringen wollte, der aber auf seinem letzten Weg entführt und dadurch gerettet wurde. Er floh nach seiner Freilassung in die USA, arbeitet dort als technischer Experte für den Geheimdienst. Unzertrennlich waren die beiden Ram-Brüder Ramsi und Ramez, die nicht nur beide eine Dunia ehelichten, sondern vor allem als Ingenieure nach dem Bürgerkrieg weltweit Millionen verdienten. Eines Tages jedoch trennen sich plötzlich ihre Wege, weil sich Ramzi in ein Kloster zurückzieht, um dort als Bruder Basil seine Mitte zu finden. Ramez führt seitdem das Ingenieursimperium aus dem jordanischen Amman allein. Nidal hat sich zum Islamisten entwickelt und im Bürgerkrieg offenbar so manche Gewalttat ausgeübt. Er wettert gegen die westliche Moderne, die koloniale Arroganz des Westens und den Liberalismus und hat sich in sein extremreligiöses Schneckenhaus zurückgezogen. Dazu beigetragen hat sicherlich auch der Tod seines Bruders Bilal, mit dem Semiramis damals liiert war. »Ihn hat die Literatur getötet«, erinnert sich diese im Gespräch mit Adam, weil er sich in den heroischen Schriften von Ernest Hemingway, George Orwell und André Malraux verloren habe. Semiramis spielt in diesem Buch eine besondere Rolle, nicht nur, weil Adam bei ihr Quartier bezogen hat, sondern weil sie ihn mit Ruhe, Champagner, Mezze und Zärtlichkeiten verwöhnt und so den Prozess des Sich-in-der-Vergangenheit-Verlierens steigert.

Adam nimmt Kontakt zu seinen ehemaligen Freunden und Gefährten auf und erfährt in den Gesprächen, dass sie zugleich Hasardeure und Profiteure, Gebliebene und Geflohene, Opfer und Täter sind. Alle hadern mit dem eigenen Werdegang ebenso wie mit den Biografien der anderen sowie dem Schicksal der verlorenen Heimat. In Briefen, Erinnerungen und Begegnungen entsteht das Bild einer Generation »der Verlierer, der Besiegten«, die – verloren in der Wirklichkeit – die erlittene Erniedrigung zu tilgen sucht. Lis Künzli, die unter anderem auch Atiq Rahimi übersetzt, hat Maaloufs Roman in ein flüssiges Deutsch übertragen. Der Sog des französischen Originals bleibt ebenso erhalten, wie die Vielstimmigkeit der Protagonisten. Einzig die plötzlichen Wechsel zwischen auktorialer Erzählung außerhalb des Tagebuchs und personaler Erzählung im Tagebuch sind gewöhnungsbedürftig – ein Umstand, der im Original angelegt ist.

Amin Maalouf geht mit seinem Personal sehr versöhnlich um. Er schafft in den Erinnerungen und Gesprächen für jede Position den Nährboden für Verständnis. Verurteilt werden soll hier niemand. Einzig ein Urteil lässt er Adam fällen, das über seine Generation, die es sich in den eigenen Post-Bürgerkriegsentwürfen allzu selbstzufrieden eingerichtet hat. »Ich habe das Gefühl, wir haben einander alle verraten«, heißt es in dem Roman. So nah kommen sich Alter Ego Adam und Autor Amin im gesamten Buch nicht noch einmal.

Amin Maalouf, 1993 für seinen Roman Der Felsen des Tanios mit dem Prix-Goncourt ausgezeichnet, setzt sich in Die Verunsicherten so persönlich wie noch nie mit der inneren Zerrissenheit seiner Generation auseinander. Er lässt seine Leser in die verletzten Seelen dieser entwurzelten Menschen blicken und präsentiert sie als Erniedrigte und Verunsicherte. Er selbst, 1976 aus dem Libanon nach Frankreich geflohen, ist einer von ihnen.