Der Münchener Kunsthistoriker und Kunstkritiker Walter Grasskamp räumt in »André Malraux und das imaginäre Museum« mit einem Mythos auf, indem er bilder- und faktenreich nachweist, wie sich der Franzose beim Versammeln der Weltkunst frei bei anderen bedient hat.
Die Plagiatsvorwürfe gegen Karl-Theodor zu Guttenberg, Silvana Koch-Mehrin oder Annette Schavan waren allesamt ein Kinkerlitzchen gegen das, was Walter Grasskamp in seines Buches André Malraux und das imaginäre Museum vorbringt. Fakten- und bildreich weist der Münchener Kunsthistoriker darin nach, dass Malraux’ bahnbrechendes Projekt des »musée imaginaire« (dt. imaginäres Museum) – wie Jorge Luis Borges »Bibliothek von Babel« eine Jahrhundertmetapher – keineswegs allein das Resultat akribischer Reflektionen des Franzosen, sondern vor allem auch ein dreist zusammengeklaubtes, aus wissenschaftlicher Perspektive sogar haarsträubendes Werk ist.
Warum wurde dies jahrelang nicht bemerkt? Grasskamp führt das auf die polarisierende Rezeption von Malraux’ Lebenswerk zurück, die sich zwischen »polemischer Ablehnung und übersteigerter Bewunderung« bewege. Grasskamps Erkundungen der malrauxschen Idee, den universalistischen Charakter der Weltkunst vergleichend zu belegen – die mit der den Buchtitel zierenden Fotografie des Kunstmäzens Malraux inmitten einer Sammlung von Fotografien ihre Bildikone fand –, ist demgegenüber von einer wohltuenden Sachlichkeit und Tiefe geprägt. Er porträtiert den französischen Schriftsteller, Politiker und Kunstpublizisten als »politisch und literarisch, kulturell wie militärisch, vandalistisch wie konservatorisch engagierten, ebenso irritierenden wie faszinierenden« Mann.
Am Anfang steht eine klassische Bildanalyse der Titelfotografie von Maurice Jarnoux, die 1954 für ein Malraux-Porträt in der Illustrierten Paris Match neben zahlreichen anderen Salonaufnahmen entstanden ist. Darauf sieht man Malraux, in einer vermeintlichen Arbeitssituation, von oben fotografiert, zu Füßen die Fotografien, die im zweiten der auf drei Bände angelegten Kunstreihe Le Musée imaginaire de la sculpture mondial erscheinen sollten. Lässig steht er in seinem Salon und studiert, eine Fotografie in der Hand haltend, die Kulturen dieser Welt. Grasskamp weist mit der Deutung der nahezu perfekt durchkomponierten Aufnahme (»ein blendendes Bild«) sowie anderer Porträts nach, wie es der Kulturpolitiker, Medienexperte und Romancier Malraux verstand, sich in Szene zu setzen. Diese Inszenierung wird von entscheidender Bedeutung sein, wie man auf den folgenden knapp 200 Seiten erfährt, denn nichts lenkt mehr von den Leistungen anderer ab, als das eigene Strahlen. Das klappte auch über viele Jahrzehnte hinweg, erst mit Olivier Todds aufräumender Biografie André Malraux, une vie verlor das Bild, das Malraux von sich selbst schuf, an Wirkung.
Die zwischen 1952 und 1954 erschienene Trilogie Le Musée imaginaire de la sculpture mondiale steht im Mittelpunkt von Grasskamps Buch. Dies ist insofern von Bedeutung, als dass André Malraux den Terminus technicus musée imaginaire in verschiedenen Kontexten und Publikationen – wozu auch die überarbeiteten Neuauflagen gehören – verwendet hat und es daher einer Konkretisierung bedarf, um welche Verwendung es hier überhaupt gehen soll. Liest man Grasskamps diesbezügliche Ausführungen, für die er sich als einer der wenigen die Arbeit gemacht hat, Malraux’ Publikationen genau unter die Lupe zu nehmen, hat man zuweilen den Eindruck, der Franzose hat sein publizistisches Werk selbst als Museum begriffen, in dem er die Argumente und Bilder ständig neu arrangiert und umgestellt hat.
Das wäre alles wenig problematisch und bedenklich, wenn er das nur mit seinem eigenen Material getan hätte. Wie hier aber zu lesen ist, hat sich Malraux für sein Werk, in dem er die Kunst als universalistisch und vergleichbar mittels Fotografien präsentierte und zugänglich machte, frei bei anderen bedient. Und so bahnbrechend neu, wie allgemein aufgefasst, war dieser Gedanken auch nicht. Schließlich präsentierten schon die Kunstgruppe Der Blaue Reiter und dessen Vertreter die Idee einer universellen (und entgrenzten) Kunst, deren Veranschaulichung durch die Reproduktion des Kunstwerks hatte mit den gemalten Gemäldegalerien eines Giovanni Paolo Pannini, den Abgusssammlungen, wie sie das frühere Pariser Musée de Sculpture comparée vorhielt, oder mit Papiermuseen wie Sebastiano Restas Galleria Portatile ebenfalls schon zahlreiche Vorläufer. Entsprechend spielt der im Zusammenhang mit Malraux’ musée imaginaire oft genannte Walter Benjamin und dessen bahnbrechende Arbeit Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit eher eine geringe Rolle.
Deutlich entscheidender für den Erfolg der Trilogie Le Musée imaginaire de la sculpture mondiale war Malraux Begegnung mit Alfred Salmony, der ihm bereits 1923 Fotografien für eine die Künste vergleichende Publikation zeigte, sowie die fünfbändige Encyclopédie photographique de l’art des französischen Fotografen und Kunstkritikers André Vigneau. Dessen Bände erschienen zwischen 1939 und 1949, also viele Jahre vor Malraux’ Projekt, in der eigens von ihm gegründeten éditions TEL. Vigneau fotografierte dafür weite Bestände des Pariser Louvre sowie des ägyptischen Museums in Kairo, was vor allem die homogene und wissenschaftlich seriöse Gegenüberstellung der Objekte ermöglichte. (Auch Walter Benjamin kannte Vigneaus Arbeiten genau. Fast zu genau, wie Grasskamp meint: »Statt stets Malraux als Profiteur der Thesen Benjamins darzustellen, würde es sich lohnen, einmal der Frage nachzugehen, inwieweit Benjamins Kunstwerk-Aufsatz Anregungen durch die Maßstäbe setzende Reproduktionsarbeit Vigneaus erfahren hat.«)