Essay, Fotografie, Sachbuch

»Wer die meisten Fotografien hat, gewinnt«

André Vigneaus Werk war André Malraux wohlvertraut. Grasskamp zeigt, wie er als Verleger und Herausgeber kunsthistorischer Bücher das Potenzial dieses Projekts erkannte. Die L’Encyclopédie photographique de l’art diente ihm als »qualitatives Vorbild dafür, wie man aus der fotografischen Reproduktion eine auch im Titel markante Serie kunsthistorischer Tafelbände generieren konnte«, schreibt Grasskamp und weißt in diesem Kontext auch auf Malraux späteres Projekt (mit Georges Salles, Roger Parry, Albert Beuret und Claude Abeille) L’Univers des formes hin.

Grasskamp belegt, wie Malraux die Encyclopédie photographique de l’art nicht nur als titelgebendes Musterbeispiel, sondern vor allem als frei verwendbare Materialsammlung verwendete. Darin besteht die herausragende Leistung dieser Publikation. Um 1950 habe Malraux »das typografische Vorbild der 1949 eingestellten Encyclopédie photographique de l’art für sein Musée imaginaire de la sculpture mondiale direkt übernommen.« Dafür entnahm er ganze Zusammenstellungen von Vigneaus Enzyklopädie, konterte und beschnitt die Fotografien oder stellte die abgebildeten Skulpturen für seine Zwecke frei, ohne auf die tatsächliche Urheberschaft der Aufnahmen und ihrer Zusammenstellungen hinzuweisen. So schuf er dramaturgische Zuspitzungen oder die notwendigen Eindrücke, um seine These einer grenzenlosen Kunst zu belegen – wissenschaftlich alles andere als seriös. Ferner bediente er sich auch anderweitig, um seine drei Tafelbände möglichst vielfältig zu illustrieren. Hier wird die direkte Konkurrenz zu Vigneaus wegweisendem Vorgängerwerk deutlich, das es für einen publizistischen Erfolg zu übertrumpfen galt. Ganz nach dem Motto: »Wer die meisten Bilder hat, gewinnt«.

Auszug Malraux Grasskamp

Auch wenn der Umgang mit Quellen zu Malraux’ Zeiten laxer gewesen war als heute, gelingt es Grasskamp, anhand zahlreicher Beispiele nachzuweisen, dass Malraux in seinem weltanschaulichen Sendungsbewusstsein und seiner Sensationssucht alle Regeln des Anstands und des wissenschaftlichen Arbeitens gebrochen hat; insbesondere dann, wenn er die »Gedankenübertragungen« von direkten Konkurrenten bewusst verschwieg oder kleinredete. Der Münchener Kunsthistoriker bewertet Malraux Vorgehen daher als »medientechnische Amtsanmaßung«, bezeichnet ihn selbst als »Zweitverwerter« und dessen medienhistorisch bahnbrechende Trilogie als »uneingestandene Variante« von Vigneaus Enzyklopädie.

Dennoch war die Wirkung von Malraux’ Trilogie nachhaltiger als Vigneaus Vorarbeit. Tragischerweise geriet diese »gleich doppelt in den Wahrnehmungsschatten« des »Nachahmers« Malraux. Denn zum einen kennt heute kaum noch jemand Vigneaus L’Encyclopédie photographique de l’art (im Gegensatz zu Malraux’ Trilogie), zum anderen wurden der Arbeit in der Rezeption »Malrauxsche Akzente« attestiert, während das Musée imaginaire de la sculpture mondiale mit dem »Durchbruch des Geistigen im Umgang mit der materiellen Erscheinung des Kunstwerks« gleichgesetzt wird und bis heute seine Wirkung entfaltet.

9783406659881_cover
Walter Grasskamp: André Malraux und das imaginäre Museum. Die Weltkunst im Salon. Verlag C.H.Beck 2014. 232 Seiten. Mit 65 Abbildungen. 29,95 Euro. Hier bestellen

Walter Grasskamps André Malraux und das imaginäre Museum kehrt diese Wirkung in einem gewissen Sinn um, indem es den berühmteren André im Titel trägt, eigentlich aber einer späte Verneigung vor dem weniger bekannten Namensvetter ist. So erklärt sich auch, warum er André Vigneau am Ende ein eigenes Kapitel widmet, in dem er erkundet, wie es dazu kommen konnte, dass der vielleicht nicht »singuläre, aber durchaus markante« Kunstkritiker erst zu einem »Mediennomaden« und schließlich zu einem »Phantom der Mediengeschichte« werden konnte.

Dieses akribisch recherchierte, intellektuell anregende und wunderbar illustrierte Buch räumt auf mit dem Mythos André Malraux, ohne dabei dessen Verdienste als Kunstvermittler zu schmälern. Walter Grasskamp zeigt den Franzosen in seiner ganzen Ambivalenz: als umstrittenen Kunstjäger und selbstgefälligen Kunstbuchautoren, als visionären Verleger und genialen Kunstvermittler. Malraux erkannte die Zeichen der Zeit früher als alle anderen, aber er hatte auch kaum Respekt vor den Arbeiten seiner Konkurrenten. Das beides miteinander in Zusammenhang steht, macht Grasskamps Erkundung des »musée imaginaire« und seiner Rezeption deutlich. Diese Ausgewogenheit der Darstellung macht André Malraux und das imaginäre Museum zu einem Solitär der kunsthistorischen Einordnung des malrauxschen Wirkens.