Comic
Schreibe einen Kommentar

Die Welt zwischen den Polen

Zwischen Urknall und den ersten Dinosauriern spielte sich eine bis heute nahezu unbekannte Erdgeschichte ab. Von ihr liest man in keinem Lexikon und keinem Schulbuch. Mit der erst 25-jährigen Londoner Zeichnerin Isabel Greenberg haben die Anhänger dieser sagenumwobenen Weltgeschichte ihre ungekrönte Königin. In ihrem Debütcomic »Die ENZYKLOPÄDIE der FRÜHEN ERDE« erzählt sie in beeindruckender Souveränität und fulminant expressiven Bildern die Geschichte einer frühen Zivilisation.

Ob Jens Harders Evolutionstrilogie ALPHA, BETA, GAMMA über Max Baitingers Heimdall bis hin zu Jesse Jacobs Hieran sollst Du ihn erkennen – Weltschöpfungs- und Weltdeutungsgeschichten sind in der deutschsprachigen Comiclandschaft momentan gern gesehen. Hier setzt auch Isabel Greenbergs Comic Die ENZYKLOPÄDIE der FRÜHEN ERDE an, das die stilistische Vielfalt der genannten Erzählungen erweitert. Ausgangspunkt ihrer Geschichte ist die Liebe zweier Menschen »in sehr kalten Gefilden«. Zwei Menschen begegnen sich und erkennen einander an den Fäustlingen, die sie tragen. Sie wissen, dass sie füreinander bestimmt sind, doch ein seltsames Magnetfeld hält sie auf Abstand. Dennoch bleiben Sie beieinander, denn ihr Zusammensein scheint gottgewollt – und mit den Göttern würfelt man nicht ums Schicksal. An Nähe bleibt ihnen nicht mehr als die Wärme, die der Sehnsuchtsmensch am Morgen in den Kissen hinterlässt sowie der Blick und das Wort. Wenn sie beieinander sitzen, erzählen sie sich Geschichten und der unbekannte Nordler, ab jetzt Erzähler genannt, berichtet seiner geliebten Südlerin, auf welch seltsamen Wegen er zu ihr kam.

Er erzählt von seinen drei Geschwistermüttern, die ihn alle für sich haben wollten und deshalb vom Medizinmann teilen ließen. Als die Schwestern die drei Jungen wieder vereinen lassen wollen, unterläuft ihm ein Missgeschick und ein Stück Seele des Jungen geht verloren. Unser Erzähler fühlt sich unvollständig. Er macht sich, entgegen aller Stammesregeln, auf den Weg, will vom Nordpol zum Südpol reisen, weil er dort zu finden hofft, was die Leere in seinem Inneren zu füllen imstande ist. Weder ein Zyklop am »Archipel des Nein Nein Nein« noch die drei Sirenen auf der »Gebirgsinsel Weh-Bauch« können den vorgeschichtlichen Odysseus auf seinem Weg aufhalten. Ein Sturm aber lässt ihn das Bewusstsein verlieren, am Strand der Insel »Britanitarka« kommt er wieder zu sich. Soweit, so homerisch das Ganze.

An diesem seltsam darwinistischen Ort, in dem »die Starken herrschen und die Schwachen ausgesondert werden«, gerät der Erzähler in die Fänge wilder Wikingerhorden, Dag genannt, denen er mit seinen Geschichten zunächst eine willkommene Abwechslung bietet. Er erfährt im Gegenzug vom Brudermord, der einen ewigen Keil zwischen die Stämme Dag und Hal getrieben hat. Als er von seiner Heimat erzählt, rührt er aber an einer viel tiefer sitzenden Feindschaft. Seine Reise droht, schon hier zu Ende zu sein. Wäre da nicht die weise alte Schrulle, die eine solche Geschichte braucht, weil sie sonst zu schnell vorbei wäre, und die ihm zur Flucht verhilft. Dass ihre Existenz ein verrückt-gewitztes Wunderwerk der Altersweisheit ist, in dem auch Riesen eine Rolle spielen, ist eine der zahlreichen köstlichen Nebenerzählungen, die dieser Comic zu bieten hat.

Von der Wikingerinsel führt es unseren Helden auf seiner Irrfahrt in die Gestade des »Bavellinischen Reiches«. In der mittelalterlich anmutenden Hauptstadt Migdal Bavel wird er mit seinen Geschichten zum erfolgreichsten Bänkelsänger des Marktplatzes. Dies bleibt auch nicht dem Sonnenkönig verborgen, der sich hinter die von eintausend furchteinflößenden Soldaten bewachten Mauern des »Palasts des Flüsterns« verschanzt hat. Er ruft den Erzähler zu sich und macht ihn, begeistert von dessen Berichten, zu seinem Haus- und Hoferzähler. Doch die Geschichten bringen den Kartografen des Reiches in Verruf, weil es nach dessen Berechnungen die eisige Heimat des Erzählers nicht geben kann. Kein Wunder also, dass der Kartograf unseren Helden loswerden möchte.

Eine solche Geschichte kommt ohne Götter natürlich nicht aus, weshalb im heimlichen Zentrum dieser Geschichte der »Obermacker, Gottkönig und kosmische Architekt« Vogelmann sowie dessen zwei Rabenkinder Kid und Kiddo auf einem kosmischen Baum hocken. Ursprünglich saßen sie dort einsam im Dunkel des Nichts, bis Kiddo bei einem Wettbewerb um die schönste Schöpfung in ihren Haaren die Welt entworfen und damit das Herz ihres weitgehend übellaunigen Vaters erobert hatte. Aus Neid schnitt Kid ihr die Haare im Schlaf ab, doch als ihm die Haare entglitten und die Welt ins Universum fiel, wurde sie Wirklichkeit. Die Erde als Resultat eines haarigen Zufalls? Zumindest ist dies Isabel Greenbergs frecher Entwurf.

Die »Enzyklopädie« der in London lebenden Zeichnerin ist voller Anspielungen auf die bekannten Mythen und Göttergeschichten. Über Stämme und Folklore habe sie schreiben wollen, ohne anthropologisch korrekt sein zu müssen, erklärte Greenberg in einem Interview ihre Motive, sumerische, altägyptische, christliche, griechische und nordische Legenden zu einer neuen Odyssee zu verbinden. Ihr Kitt ist dabei das Erzählen selbst, das die Lesenden in immer neue Geschichten und Narrative trägt. Man erkennt sie sofort, und doch sind sie hier völlig neu.

Das frappierende erzählerische Talent Greenbergs zeigt sich auch in der Kurzgeschichte The River of Lost Souls, die Greenberg im vergangenen Jahr für den britischen Guardian gezeichnet hat. Darin erzählt sie von einem Konflikt zwischen Hades und seinem treuen Fährmann Charon, der gemäß der griechischen Mythologie die Toten über den Styx setzt. Sie macht daraus eine ach so menschliche Geschichte, dass man sich fragt, warum nicht schon früher jemand auf diese grandiose Idee gekommen ist.

Die Welt, an der Kiddo immer mehr Gefallen findet, entfaltet sich. Ganz zum Ärger ihres misanthropischen Vaters, der, als sich seine Tochter in den Menschen Noah verliebt und diesen zu einem Gott machen will, eine Sintflut auf die Welt schickt. Doch Kiddo warnt den Geliebten und rettet ihn auf eine Arche. Dem vogelartigen Misanthropen – eine Version des ägyptischen Himmelsgottes Horus – gefällt das hinterhältige Spiel seiner Tochter ganz und gar nicht. Als er sieht, wie die Menschen in Migdal Bavel mit einem unendlich hohen Turm nach ihm suchen und sich dabei selbst zu Göttern machen, fordert er von seiner Tochter, ihr Werk zu zerstören. Doch gerissen wie sie ist, greift sie zu einem anderen Mittel. Sie nimmt den Menschen ihre Sprache – und es »verstand keiner mehr den anderen«.

Hier befindet sich leider der einzige erzähllogische Fehler in dieser götter- und mythenumwobenen Enzyklopädie, denn statt in dem sich ergebenden Chaos aus der Stadt zu fliehen, soll der Erzähler dem Sonnenkönig weiterhin seine Geschichten darbieten. Doch warum, fragt man sich, wurde den Menschen doch gerade die gemeinsame Sprache geraubt? Es ist dies das einzige Ärgernis in diesem großen Mythenmärchen, über das es hinwegzulesen gilt. Unser Erzähler flieht mithilfe des Kartografen, der froh ist, eben jenen, der ihn in Bedrängnis brachte, wieder loszuwerden.

Wieder sehen wir diesen frühen Odysseus in seinem Boot sitzen, weiterhin auf die Suche nach dem fehlenden Stück seiner Seele. Während er zwischen hohen Wellen schaukelt, will Vogelmann diesem von seiner Tochter behüteten Erzähler den Garaus machen. Schließlich habe es noch nie ein Nordler bis zum Südpol geschafft, und das soll auch so bleiben. Doch er hat die Rechnung ohne seine Kinder gemacht, die, inzwischen vereint, einen Wal kommen lassen, der den Erzähler verschlingt und am Südpol wieder ausspuckt, wo unser Erzähler auf seine Seelenverwandte stößt, die seine versehrte Seele komplettiert.

Cover_Greenberg
Isabell Greenberg: Die Enzyklopädie der frühen Erde. Aus dem Englischen von Katharina Dittes. Suhrkamp Verlag 2013. 176 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen

Greenbergs im wahrsten Sinne des Wortes fantastische Erdschöpfungsgeschichte wird im angloamerikanischen Raum gefeiert, der Guardian sprach ihrem Debüt schon Klassikerstatus zu, die New York Times führte sie zu Jahresbeginn auf Platz zwei der besten zehn Comics im Januar, das renommierte Slate-Magazin riet emphatisch zu diesem »heiteren und berührenden Fest der erzählenden Spezies Mensch«. Mit einem Auszug ihres teilkolorierten Schwarz-Weiß-Comics im leicht abstrakten Independent-Stil – die Zeichnungen erinnern teilweise auch an fein ziselierte Holzschnitte – gewann die Zeichnerin in England den Observer-Preis für die beste graphische Kurzgeschichte. Bei den diesjährigen Eisner-Awards sind ihr Debütcomic als bestes Album und sie als beste Autorin nominiert.

Die hiesigen Comic-Experten haben von Isabel Greenberg hingegen noch keine Notiz genommen. Dass das Feuilleton den bereits im Herbst erschienenen Band weitgehend ignoriert hat, ist das eine. Dass aber Greenbergs Name nicht auf der Liste der beim Comicsalon in Erlangen für den Max-und-Moritz-Preis Nominierten auftaucht, ist geradezu schändlich.

Woran mag das liegen? Ist es die Abneigung des vermeintlich intellektuellen »Graphic-Novel«-Programms des Hauses Suhrkamp, dem Teile der Comicszene skeptisch gegenüberstehen? Das kann es nicht sein, mit Ulli Lusts Flughunde und Volker Reiches Kiesgrubennacht stehen gleich zwei Suhrkamp-Titel auf der Liste der nominierten Comics. Womöglich ist es der feministische Grundton, den diese Geschichte trägt, denn die Helden dieser Erzählung sind nicht die männlichen Figuren. Diese stolpern entweder irrend durch die Welt, wie unser Erzähler, oder provozieren Streit, Gewalt und Unterdrückung. Heldenhaft sind hier einzig die Frauenfiguren. Sie halten, wie die weise alte Schrulle, die Erzählung und damit die Möglichkeit einer Welt aufrecht oder bewahren, wie Kiddo, die Menschheit vor dem Untergang. Zugleich sind sie nicht frei von Fehlern, wie gleich zu Beginn die drei neidischen Schwestern deutlich machen. Aber die frühe Erde ist ohne die Frauen dieser Geschichte schlichtweg nicht – das mag bei dem einen oder anderen nicht auf Gegenliebe gestoßen sein.

Bleibt zu hoffen, dass die Comicleser dieses grafische und erzählerische Kabinettstück unabhängig von Feuilleton und Comickritik für sich entdecken und sich forttragen lassen in die Wunderwelt der frühen Erde, deren faszinierende Geschichte Isabel Greenberg abseits der paläanthropologischen Ausgrabungsstätten zwischen den Zeilen der Weltliteratur gefunden hat.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.