Literatur, Roman

Die Notwendigkeit der Liebe

»Es galt, sich zu verlieben, einen Partner zu finden, doch was, wenn es soweit war?« Dieser Frage gehen die drei Hauptfiguren in Olga Grjasnowas zweitem Roman »Die juristische Unschärfe einer Ehe« ohne Rücksicht auf Verluste nach.

Schon auf der ersten Seite dieses Romans fühlt man sich zurückversetzt in den Moment, als man Wolfgang Herrnsdorfs Tschick zur Hand nahm, die erste Seite aufschlug und laß: »Als erstes ist da der Geruch von Blut und Kaffee. Die Kaffeemaschine steht drüben auf dem Tisch, und das Blut ist in einen Schuhen.« Ein paar Sätze später erfahren wir von Herrndorfs tragischem Helden Maik Klingenberg, dass er sich nach einem Autounfall auf einer Polizeistation befindet und auf die Vernehmung wartet.

Olga Grjasnowa steigt in ihrem neuen Roman Die juristische Unschärfe einer Ehe direkt mit der Zelle in der Polizeistation ein, in der sich ihre Hauptperson Leyla zu Beginn des Romans befindet. Drei mal zwei Meter klein ist diese und sieht aus, wie der »Hauptschauplatz in einem schlechten Film Noir«, heißt es da. Die in Baku geborene Autorin verschont ihr Lesepublikum mit Leylas Blut immerhin bis zum Ende des ersten Absatzes, wo es in »mehreren Schichten« auf ihrem Kleid trocknet. Was dann folgt, ist eine rasante Fahrt zum abgrundtiefen Nullpunkt dieser Geschichte, die zwischen den fensterlosen Trainingsräumen des Bolschoi-Theaters in Moskau, den Darkrooms im Berliner Berghain und den Kellerverließen des aserbaidschanischen Polizeistaats angesiedelt ist.

Um diesen zeitlichen Nullpunkt herum erzählt Grjasnowa die Geschichte von Leyla, Altay und Jonoun, die alle drei von der Liebe Träumen, sich dabei aber selbst und einander immer wieder verlieren. Während der sich dem Nullkapital anschließende erste Teil die Geschichte der drei Hauptfiguren bis zur Inhaftierung von Leyla erzählt, erfährt man im zweiten Teil, wie sich das Beziehungsdreieck in Georgien, Aserbaidschan und Armenien zu einem Viereck ausweitet.

Olga Grjasnowa wurde nach ihrem Debütroman Der Russe ist der, der Birken liebt als eine der neuen deutschen Literaten gefeiert, die man auf dem Schirm haben muss. Dieses Porträt ihrer Generation, die keine Grenzen und Nationalitäten kennt, und wenn, dann diese für sich zu Eigen macht, erteilte sie ihrem Lesepublikum eine fabelhafte Lehrstunde über die deutsche Gesellschaft, die allen Unkenrufen und politischen Widerständen zum Trotz längst zu einer Einwanderungsgesellschaft sowohl im besten als auch im tragischsten Sinne geworden ist. Mit Die juristische Unschärfe einer Ehe legt Grjasnowa nun eine gesellschaftskritische Roadnovel vor, die einer existenziellen Selbstsuche der Protagonisten gleicht. Aufgeladen mit Aspekten der Sexual- und Geschlechterpolitik sowie der Reflexion über die gesellschaftspolitischen Verhältnisse im Kaukasus, wirkt Grjasnowas zweiter Roman zuweilen etwas überladen und konstruiert. Dies mag den hohen Erwartungen zuzuschreiben sein, mit denen man nach ihrem vielgefeierten und mehrfach preisgekrönten Debüt zu diesem Folgewerk greift.

Der Roman ist eine alles andere als klassische Dreiecksgeschichte im Sinne von Frau liebt Mann liebt Frau, auch weil hier auf all das verzichtet wurde, was man an Kitsch und Klischee befürchten musste. Die Ehe von Leyla und Altay ist ein Mittel zum Zweck, geschlossen vor Jahren in Moskau, um dort die eigene gleichgeschlechtliche Orientierung zu verstecken. Doch was einst Zweck war, ist mit den Jahren zu einem vertrauensvollen, zärtlichen Verhältnis gewachsen, das einem Spiel mit dem Feuer gleicht, weil direkt neben dem Wille zur Freiheit die Eifersucht wohnt, die sich aus innerer Einsamkeit nährt. Kein Wunder also, dass Altay seine Schwierigkeiten hat, als sich Leyla Hals über Kopf in Jonoun verliebt und diese sogar in die gemeinsame Wohnung einziehen lässt. Da helfen auch gemeinsame Ausflüge in die hedonistische Welt der Berliner Klubs nicht weiter.

Cover
Olga Grjasnowa: Die juristische Unschärfe einer Ehe. Hanser Verlag 2014. 272 Seiten. 19,90 Euro. Hier bestellen

Mit Leyla und Jonoun begegnen sich zwei Charaktere, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Während Leyla von ihrer georgischen Mutter im Sinne des Leistungsprinzips zu einer selbstbezogenen Primaballerina herangezogen wurde (»Der Wille zum Funktionieren wurde allmählich zum Fundament ihrer Persönlichkeit.«), ist Jonoun als uneheliche Tochter einer israelischen Hippiemutter zu einem »Punk-Kid« herangewachsen, das kifft und kokst sowie mit Hardcore und Jazz versucht, die eigene Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe zu betäuben.

Der selbstironische Titel und das Cover mit einem Auszug aus dem Codex Seraphinianus lassen anklingen, dass die Protagonisten mit ihren Rollen, Identitäten und Biografien kämpfen. Abwesende Mütter, die Sehnsucht nach Liebe, frühe Enttäuschungen und Verluste sowie anschließende Ausbrüche in hoffnungslose Beziehungen bilden den verheerenden Kreis aus frühkindlichen Traumata und enttäuschten Hoffnungen, in dem begründet liegt, dass sie im gleichen Maße aneinander klammern wie sie einander nicht ertragen können. »Man braucht nicht auf die Midlife-Crisis zu warten, man kann sein Leben auch schon mit Mitte Zwanzig wunderbar gegen die Wand fahren«, heißt es dazu in der Mitte des Romans, womit der zweite Teil des Romans eingeläutet ist.

Nachdem Leyla nach Aserbaidschan verschwunden und dort in Schwierigkeiten geraten ist, schließen sich Altay und Jonoun zusammen, um gemeinsam nach Osteuropa zu reisen und ihr zu helfen. Hier werden nun nicht nur die verworrenen Familiengeschichten von Altay und Leyla aufgegriffen, sondern die Beziehungsfähigkeit der Protagonisten wird auf die Probe gestellt. Während sich Leyla und Jonoun sinnsuchend auf einen Roadtrip durch den mittleren Osten begeben, in dem das »Unterwegssein zur existenzialistischen Notwendigkeit« wird, verliebt sich Altay in Baku in Farid, dessen Vater die gekaufte Oppositionspartei leitet und entsprechend Einfluss auf das unerfreuliche Sexualleben seines Sohnes zu nehmen sucht.

Vor allem im zweiten Teil des Romans werden Erinnerungen an den Ausflug von Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow wach. Obwohl die Erzählperspektive hier eine andere (auktorial vs. Ich-Erzählsituation) ist, liest sich Grjasnowas Roman wie eine Art Tschick 2.0 für Erwachsene. Spielerisch werden dabei die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse in der Kaukasus-Region reflektiert. Der moralpolitischen Verve, die damit einhergehen könnte, entzieht Grjasnowa mit Witz und Ironie jeden Boden. Als Altay mit Farid über Gay Prides und deren Unmöglichkeit in seiner Heimat diskutiert, entgegnet ihm der Politikersohn »Gott sei Dank! Ich laufe doch nicht in pinken Höschen herum, zur Belustigung von heteronormativen Touristen.«

Im Kern dreht sich Die juristische Unschärfe einer Ehe um die Liebe, die alle Protagonisten so nötig haben und zugleich kaum in der Lage sind, zu geben. Am besten gelingt es noch Altay und Leyla, deren juristisch unscharfe Verbindung zu etwas Vertrautem gewachsen ist, das einer Ehe ähnlich aber doch nicht gleich ist. Was ist und was vermag die Liebe? Diese großen Fragen werden in diesem rasanten Roman aufgegriffen.

Am Ende des Buches fragt Altay Leyla resigniert: »Wieso endet jede Verliebtheit in maßloser Enttäuschung?« Eine Antwort darauf bekommen wir nicht. Manche Dinge sind wahrscheinlich so, wie sie eben sind.

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