Gesellschaft, Philosophie, Sachbuch

Das macht man nicht!

Über die moralischen Anforderungen eines Amtes oder: Warum Katharina Blum mehr Ehre besitzt als unsere verfehlten Spitzenkräfte. Der britische Philosoph Kwame Anthony Appiah erklärt es in seinem klugen Essay »Eine Frage der Ehre oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt«.

Als die Haushaltsgehilfin Katharina Blum den um ein Jahr älteren Ludwig Götten kennen lernt, ahnt sie nicht, dass der 27-Jährige nicht nur von der Bundeswehr desertiert ist, sondern auch wegen Raubmords gesucht wird. Die Massenmedien stempeln sie zum Mörder deckenden »Räuberliebchen« ab. Erschrocken wendet sich Blum an die Polizei »und fragte, ob der Staat – so drückte sie es aus – nichts tun könne, um sie gegen diesen Schmutz zu schützen und ihre verlorene Ehre wiederherzustellen. Sie wisse inzwischen sehr wohl, dass ihre Vernehmung durchaus gerechtfertigt sei, wenn ihr auch dieses ‚Bis-ins-letzte-Lebensdetail-Gehen’ nicht einleuchte, aber es sei ihr unbegreiflich, wie Einzelheiten aus der Vernehmung – etwa der Herrenbesuch – hätten zur Kenntnis der ZEITUNG gelangen können, und alle diese erlogenen und erschwindelten Aussagen.«

Es sind die über sie verbreiteten Unwahrheiten, die Heinrich Bölls tragischer Heldin in seinem 1974 erschienenen Roman Die verlorene Ehre der Katharina Blum zusetzen und sie schließlich dazu antreiben, den verantwortlichen Redakteur umzubringen. Die Ehre, eine längst in vergessen geratene Kategorie, ist wieder im Geschäft. Beigetragen haben dazu ausgerechnet jene, die sich um selbige gebracht haben: jene, die Karl-Theodor zu Guttenberg, Christian Wulff, Christine Haderthauer heißen aber auch jeden anderen Namen tragen könnten. Denn sobald die Abgehobenheit Teil der eigenen Identität wird, wird ein jeder Teil jenes »Spitzenpersonals«, das die Ehre aus ihrem philosophischen Exil geholt hat – durch ehrrühriges Fehlverhalten.

Das Buch zur Stunde hat der britische Philosophieprofessor Kwame Anthony Appiah geschrieben. Es trägt den Titel Eine Frage der Ehre oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt. Appiah hat seine Leser in der Vergangenheit bereits mit einer lesenswerten Philosophie des Weltbürgertums beglückt und ihnen Ethische Experimente als »Übungen zum guten Leben« an die Seite gestellt. Nun erläutert er, wie es dazu kommen konnte, dass im 19. Jahrhundert drei bis dato selbstverständlich praktizierte soziale Gegebenheiten abgeschafft wurden, weil sie an der Ehre kratzten. Dabei handelt es sich um das Duellieren innerhalb des britischen Adels, das Füßebinden in der chinesischen Aristokratie sowie die Sklaverei im britischen Imperium. In allen drei Fällen vermutet Appiah einen Wandel des zugrunde liegenden Ehrenkodex, der erst diese unmoralischen Praktiken begründete und schließlich zum Ende dieser Praktiken geführt hat. Ein britischer Gentleman konnte nur so lange seine Ehre im Duell verteidigen, bis auch die unteren Schichten begannen, ihre Konflikte im Duell auszutragen. Die Frauen der chinesischen Han-Elite beendeten das Füßebinden, als die grausame Tradition zur nationalen Schande und Ehrverletzung zu führen drohte. Und die Plantagensklaverei im britischen Imperium geriet unter Druck, als sich in Großbritannien eine selbstbewusste Arbeiterschaft herausgebildet hatte, die die Verbindung von Arbeit, afrikanischer Abstammung und Ehrlosigkeit selbst als ehrverletzend empfand.

Cover Appiah
Kwame Anthony Appiah: Eine Frage der Ehre oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. C.H.Beck 2011 . 270 Seiten. 24,95 Euro. Hier bestellen

Kwame Anthony Appiah ist aber nicht nur Philosoph, sondern als Direktor der amerikanischen Schriftstellervereinigung PEN auch ein Freund der gehobenen Sprache. Die Reise in die historische Moralphilosophie, die er mit seinem neuesten Werk bietet, fasziniert nicht nur in ihrer klugen Argumentation, sondern ist in ihrer geschliffenen Komposition auch ein Lesevergnügen sondergleichen – bei dem den Lesern auch die Grundzüge der Ehre nahe gebracht werden.

Dies führt uns zurück zu unserem »Spitzenpersonal«, das sich meist für sein Fehlverhalten entschuldigt, sich aber zugleich zu Unrecht von den Medien ungerecht behandelt sieht. Aber den »Anspruch auf Respekt«, das nämlich versteht Appiah unter Ehre, verspielt es regelmäßig selbst. Nicht weil es Fehler macht, sondern weil es diese meist nicht eingesteht. Für die Fehlinformationen, in denen Bölls Katharina Blum ihre Ehre verletzt sieht, sorgen die Betreffenden gewöhnlich selbst, indem sie nur auf Druck und scheibchenweise Fehlverhalten einräumen – was zugleich nicht das Bis-ins-letzte-Lebensdetail-Gehen so mancher Redaktion rechtfertigt. Dass es dennoch immer wieder dazu kommt, ist nicht selten Ergebnis der öffentlichen Selbstinszenierung der betreffenden Personen.

Dass sie sich im Umgang mit ihren Verfehlungen im Vergleich zum Normalbürger ungerecht behandelt gefühlt haben, lässt erkennen, dass sie ein Grundprinzip nicht verstanden haben: »Die soziale Identität bestimmt nicht nur, welchem Ehrenkodex man zu entsprechen hat, sondern auch, mit wem man um Ehre konkurriert. Die Ehre ist eine Belohnung für jene, die innerhalb ihrer sozialen Gruppe besondere Wertschätzung verdienen. Sie belohnt jene, die mehr tun, als sie müssen, und wirkt daher als Anreiz, über das hinauszugehen, was die Pflicht verlangt.« Und weil das fehlerbehaftete »Spitzenpersonal« meist nicht einmal das getan hat, was es hätte tun müssen, ist ein Anschein entstanden, der zu ihrem Ehrverlust geführt hat.

Das Grundgesetz sieht vor, das die Würde des Menschen – und damit ein Recht auf Achtung des Einzelnen aufgrund seines Menschseins – unantastbar ist. Jeder genießt ein Mindestmaß an Ehre. Darüber hinaus aber verschieben sich die moralischen Maßstäbe: Die Messlatte der Ehre liegt höher, je weiter oben man sich in der gesellschaftlichen Hierarchie bewegt. Oder anders gesagt: Wer hoch steigt, kann tief fallen.

Nicht alles, was juristisch korrekt ist, ist moralisch geboten – erst Recht nicht bei der selbst ernannten Elite. Im Feld der Moral ist sie als primus inter pares zu behandeln. »Der Wille, das Richtige zu tun, ist nicht dasselbe wie die Sorge darum, des Respekts würdig zu sein. Durch das Streben nach Respekt verbindet sich das gute Leben mit unserer Stellung innerhalb der sozialen Welt. Die Ehre trägt die Integrität in die öffentliche Sphäre.« Und an dieser Integrität fehlt es meist. Auch wenn sich so mancher Verfehlte am Ende im Recht fühlt, ist doch eines entscheidend: »Wenn von Ehre die Rede ist, kommt es gelegentlich ebenso auf die Selbstachtung der nach Ehre Strebenden wie auf den Respekt Anderer an.«

Der Ehrverlust der Böll’schen Heldin erfolgte ohne eigenes Verschulden und Zutun, der tiefe Fall so mancher »Spitzenkraft« selbstverantwortlich und wider besseres Wissen. Die Blum war für ihre Ehre zu kämpfen bereit, die zu Guttenbergs, Wulffs und Haderthauers wollten sich ihrer nur bedienen, als sie sie bereits zugrunde gerichtet hatten.

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