Literatur, Roman

Willkommen im Prekariat

Zwei Romane hat Thomas Melle bislang geschrieben, zwei Mal landete er auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Sein in diesem Jahr nominierter Roman »3000 Euro« erzählt von den Sorgen einer alleinerziehenden Mutter und eines obdachlosen Ex-Juristen.

»Scheiße, scheiße, scheiße« brüllt der verwachsene Choleriker Hansi auf dem Flur des Männerwohnheims. Hansi könnte auch Uwe, Maik oder Anton heißen, denn in den Bewohnern dieses Asyls für gescheiterte Existenzen kocht die Wut. Eine Wut über die Ungerechtigkeit des Lebens, in dem sie irgendwann gestolpert und seither nicht wieder auf die Beine gekommen sind. Wie Anton, ein ehemaliger Jurist, der aus seinen Geldschwierigkeiten nicht mehr herauskommt. Dreitausend Euro muss er bis zum nächsten Gerichtstermin auftreiben. Andernfalls bekommt er das nächste Strafgeld aufgebrummt, das dann Teil des Schuldenbergs würde, den Anton vor seinem Leben herwälzt wie Sisyphos den Felsbrocken. Ohne Pause, immer bergauf, immer beschwerlich. »Dreitausend Euro, denkt Anton, während er durch die U-Bahn wankt, dreitausend Euro, wie viel ist das, wie wenig.«

Das Leben der alleinerziehenden Mutter Denise ist nicht derart aus den Angeln geraten. Fraglich ist allein, ob es jemals in den Angeln war. Sie arbeitet in einem der Supermärkte, die mit Vorliebe alleinstehende Mütter anstellen, lebt in einer Neubausiedlung am Rande der Stadt und kümmert sich, so gut sie kann, um ihre geistig versehrte Tochter Linda. Denise träumt von einem besseren Leben, will ihre Sorgen nicht regelmäßig in der Kneipe ihres Blocks ertränken, um mal für ein paar Stunden Ruhe zu haben. Die kleine Rolle in einem Pornostreifen kommt da gerade recht, zumal sie ja gern Sex hat. Unter dem Pseudonym Nadine Laval ist sie im Internet aktiv, man kann ihr online zusehen, wie sie Schwänze in den Mund und sich von hinten nehmen lässt. Auf die in Aussicht gestellten dreitausend Euro Honorar wartet sie aber schon seit drei Wochen vergeblich. Mit jedem weiteren Tag des Wartens steigt die Nervosität, jedes harmlose Lächeln wird zu einem lüsternen Blick des Erkennens. Die Verzweiflung in ihr steigt. »Dreitausend Euro, dreitausend Euro, dreitausend Euro. Nichts ist das, und trotzdem alles.«

Thomas Melle hat mit 3000 Euro einen Roman geschrieben, der deshalb auf der Shortlist steht, weil er die Wirklichkeit des so genannten Prekariats aus dessen Perspektive ausbreitet. Zumindest konnte man es so in einigen Empfehlungen lesen. Da findet sich ein schmaler Roman plötzlich auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises wieder, weil er diejenigen sprechen lässt, die ein paar Straßen weiter in den Wohnblöcken leben. So ist Thomas Mehles Zweitroman wie schon sein Debüt Sickster unter den letzten sechs vermeintlich besten Büchern des Jahres, wo er nun etwas verloren neben poetisch schillernden Titeln wie Kruso von Lutz Seiler, Pfauenauge von Thomas Hettche oder Panischer Frühling von Gertrud Leuteneggers steht.

Thomas Melle: 3000 Euro. Rowohlt Berlin 2014. 203 Seiten. 18,95 Euro. Hier bestellen

In diesem Roman schillert jedoch nichts. Vielmehr regiert die nackte Existenzangst. Der Berliner Thomas Melle, unter anderem Übersetzer von William T. Vollmanns drastischem Roman Huren für Gloria, hat sich für sein zweites Prosawerk für einen besonderen Duktus entschieden. Er lässt seine Figuren sprechen, so dass die Lesenden ihnen gegenüber zur Empathie neigen, während die Figuren die Lesenden selbst keineswegs verschonen. Denise und Anton zeigen im Wechsel, was keiner sehen und wahrhaben möchte. Allein die Entblößung der zu oft und zu lange ignorierten Verhältnisse, die hier aufgezeigt werden, macht aus 3000 Euro zwar einen lesenswerten, aber nicht unbedingt preisverdächtigen Roman. Wem die Welt sozial (und vor allem kulturell) Benachteiligten vollkommen fremd ist, der wird hier eine Menge lernen.

Anton versucht alles, um an die dreitausend Euro, die seinem Leben noch einmal eine Wende geben könnten, heranzukommen. Er klappert die alten Freunde ab, diejenigen, die es geschafft haben, bringt das betretene Schweigen in deren lautstarke, quirlige Welt. Er sucht seine Mutter auf, um in ihrem verrückten Dasein eine Lücke zu finden, sein Problem ernsthaft anbringen zu können und Unterstützung zu finden. Und er geht in die Vorlesung seines ehemaligen Professors, in der Hoffnung, dieser würde den vielversprechenden Studenten, der er einst war, wiedererkennen und seine Hilfe anbieten. Aber alles, was dieser sieht, ist ein stinkender Penner, der sich woanders ausschlafen soll. Ein Zufall führt Anton und Denise zusammen. Denise beginnt sich für Anton zu interessieren, hat aber Angst davor, mit ihm das nächste Problem in ihr Leben zu lassen.

Melle weist energisch auf ein Thema hin, welches bislang für die ständig Arbeitenden reserviert war. Das Recht, über das innerliche Ausbrennen zu klagen, war bislang nur jenen vorbehalten, die sich in den unablässig rotierenden Arbeitsmühlen der kapitalistischen Funktionswelt befinden. Dass aber vor allem auch jene an Burnout leiden, die im und am geforderten Leben scheitern, wurde bislang kaum thematisiert. Dabei liegt es auf der Hand, dass die Unmöglichkeit eines würdevollen Lebens krank macht. »Ich will nicht unter meinem Niveau leben. Dann lieber weg sein«, sagt der gescheiterte Anton einmal zu Denise. Die weiß zwar nicht, was er damit genau meint, aber im tiefen Inneren versteht sie ihn.

Es geht in 3000 Euro um die großen Fragen in den vermeintlich kleinen Biografien von Denise und Anton, die in keinem anderen Medium diesen Raum bekämen. Hat Recht etwas mit Gerechtigkeit zu tun? Gibt es einen Anspruch auf Würde? Gibt es ein Schicksal? Fragen wie diese leuchten zwischen den Zeilen von Melles Roman immer wieder auf. »Gibt es da eine bestimmte Stelle, an der sich ein Nebengleis vom Hauptstrang der anderen abspaltete, auf dem er allmählich wegdriftete, erst unmerklich, dann unwiderruflich? Oder ist es die Summe der kleinen Entscheidungen, Versäumnisse und Auslassungen gewesen?«

Melle beweist sich in seinem Roman als genauer Beobachter des Alltags, etwa wenn er aus den verständnisvollen Gesten von Antons Betreuerin »die Routine der professionellen Zuneigung für die Erniedrigten und Beleidigten« herausliest oder in der Farbgebung der Supermärkte die urbane Logik des Kapitalismus findet: »Supermärkte sind meist rot oder gelb. Rot steht hierbei für höherwertig, gelb für billig.«

3000 Euro ist wie ein Schlag in die Magengrube der Saturierten, weil er in seiner kämpferischen Empathie für »die da unten« und seinem inhärenten Kopfschütteln über »die da oben« das Schweigen über die Verhältnisse bricht, in denen nicht jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, sondern der Wohlstand der einen auf den Rücken der anderen entsteht.

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