Literatur, Roman

Dem Alles auf der Spur

Es geht neben vielen anderen Dingen um das Risiko rollender Walkadaver, die artgerechte Haltung von Fahrzeugen und die schreckliche Unglaubwürdigkeit der Wahrheit. Heinrich Steinfests »Der Allesforscher« ist ein vergnüglicher Unterhaltungsroman, in dem sich der Erzähler im Chaos der Globalisierung zu behaupten versucht.

Ein Allesforscher kann zweierlei sein. Entweder ist er ein Universalgelehrter, also jemand, der alles erforscht, oder ein Allesforscher ist dem Geheimnis auf der Spur, das sich hinter dem Alles verbirgt. In Heinrich Steinfests gleichnamigen Roman ist dieser ominöse Wissenschaftler ein älterer Herr, der den Spitznamen Little Face trägt. Der Erzähler Sixten Brauns kennt ihn aus seinen Kinderjahren, in denen er ihn immer wieder besuchte. Bis er ihn eines Tages tot auf seinem Sofa fand.

Das ist aber nur eine nebensächliche Anekdote in dem überaus ereignisreichen Leben des Erzählers, das aufgrund des zweifelhaften Ich-Erzählers aber mit Vorsicht zu genießen ist. Zumindest werfen einige Aussagen ein bedenkliches Licht auf die Glaubwürdigkeit seiner Geschichte: »Ich habe gelesen, der Mensch lügt 200 Mal am Tag. Mag sein, dass auch diese Zahl eine Lüge ist, aber bei hundertmal am Tag würde ich sofort unterschreiben.« Ganz ehrlich: selbst wenn hier alles erstunken und erlogen ist, macht es gar nichts, denn dann hat dieser Sixten Brauns Lüge an Lüge so kongenial aneinander geknüpft, dass man seinen Don-Quijotesquen Abenteuern mit fassungsloser Begeisterung folgt.

Alles beginnt in Taiwan, wo er sich als Geschäftsmann aufhält. Er entkommt hier nur knapp dem Tod, als ein auf einen Transporter geladener Wal in seiner Nähe explodiert und er von einem Stück herumfliegendem Walfleisch fatal am Kopf getroffen wird. Im Krankenhaus begegnet der Rekonvaleszent der attraktiven deutschen Ärztin Lana Senft, mit der er, in der Hoffnung, sie möge ihn nach Deutschland zurückbegleiten, eine Affäre beginnt. Doch er fliegt allein zurück und entgeht dabei als einziger Überlebender des Absturzes seines Fliegers ein zweites Mal nur knapp dem Tod.

Glück, Schicksal, Zufall? Wie man das auch immer nennen möchte, der Erzähler wird jeder Version vehement widersprechen. »Es gibt keine Zufälle«, heißt es an einer Stelle im Roman, an einer anderen wird uns erklärt, dass alles, was geschieht, ohne Alternative bleibe. »Die Alternative bilden wir uns nur nachträglich ein.« Für die Konsumenten dieses vergnüglichen Romans heißt dies nichts anderes, als diese Wendungen hinzunehmen und – mit Verlaub – die Klappe zu halten oder das Buch zuzuklappen. Ein gut gemeinter Rat: lesen Sie weiter.

Apropos Konsumenten: In einem Roman, der in famoser Weise als einer mit globalen Dimensionen begriffen werden muss, geht es natürlich auch um die Regeln des Kapitalismus in der globalisierten Welt. Gleich zu Beginn heißt es, dass es keine Waren gebe, »an denen kein Blut klebt«. Hinter Sätzen wie diesen könnte sich das ganze Elend der modernen Wirtschaftswelt verbergen, um in einen moralpolitischen Appell zu kippen. In Heinrich Steinfests Der Allesforscher passiert aber etwas anderes. Hier laufen dem Leser solche Aussagen wie ein kalter Schauer den Rücken herunter, auf dass man darüber nachdenke. Doch eh man sich versieht, ist der Roman schon dem nächsten Ereignis entgegengeeilt.

Cover Allesforscher
Heinrich Steinfest: Der Allesforscher. Piper Verlag 2014. 400 Seiten. 19,99 Euro. Hier bestellen

Dennoch gibt es einen smarten und erfolgreichen Geschäftsmann in diesem Roman. Er heißt Auden Chen und revolutioniert mit seinem KAI-Imperium den weltweiten Kosmetikmarkt. Chen ist eine Art Schwiegermutter-kompatibler Wiedergänger des Sonderlings Jean-Baptiste Grenouille, aus Patrick Süßkinds Das Parfüm, der es sich zur Eigenschaft gemacht hat, an allen möglichen Orten der Welt »das ein oder andere Kraut, den ein oder anderen Pilz, mitunter ein aus dem Beton herauswachsendes Blümchen, einen Samen, ein Blatt, hin und wieder den Faden einer Spinne, die Deckflügel eines toten Käfers, dies alles der Natur mit höflicher Geste zu entziehen, zu pulverisieren und der KAI-Basispaste zuzufügen«. Die Möchtegernschönen dieser Welt reißen ihm seine Paste unter den Fingernägeln weg, KAI gibt es bald in jedem Ort mit Schönheitsshop. Der wirtschaftliche Erfolg fällt Auden Chen aber auf die Füße – soviel Kapitalismuskritik muss schon erlaubt sein – und aufgrund einiger Schwierigkeiten, über die hier das Tuch des Schweigens geworfen sein soll, zieht er sich in die Anonymität zurück.

In einem Paralleluniversum hat Sixten Brauns inzwischen zum Bademeister umgeschult, als er sich plötzlich mit der überaus engagierten Jugendamtsvertreterin Kerstin Heinsberg und einem taiwanesischen Jungen namens Simon konfrontiert sieht. Vor allem Simon fordert ihn heraus, weil er eine der Welt bis dato völlig unbekannte Sprache spricht. Ergo ist das kommunizieren miteinander nicht ganz einfach. Über das Klettern finden sie zueinander, was wiederum dazu führt, dass sich Sixten Brauns am Ende der Welt (den Zillertaler Alpen) den Traumata seiner Familienvita stellen muss. Ganz nebenbei wird er dort lernen, die Liebe anzunehmen.

Der Österreicher Heinrich Steinfest, Autor dieses außergewöhnlichen Romans, ist den meisten Lesern als Krimiautor bekannt. Mehrfach hat er mit seinen Büchern den deutschen Krimipreis gewonnen. Mit seinem Roman Der Allesforscher ist er in diesem Jahr für den Deutschen Buchpreis nominiert worden, der zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse an Lutz Seiler und seinen Roman Kruso vergeben wurde. Über die Frage, ob diese Nominierung gerechtfertigt war, könnte man angesichts einiger prominent ignorierter Werke redlich streiten. Dass der Roman unabhängig davon aber ein großes Vergnügen darstellt, ist absolut unstrittig. In seinem gleichermaßen anregenden und unterhaltsamen Chaos erinnert das Buch an Jan Faktors im Jahr 2010 für den Literaturpreis der Leipziger Buchmesse nominierte Groteske Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des Heiligen Hodensack-Bimbams von Prag. Hier arbeitet sich ein Erzähler nicht an einem bestimmten Lebensthema ab, sondern lässt uns am Erleben seiner chaotischen Realität teilhaben. Das ist ein großes Vergnügen, in dem das Absurde seinen festen Platz hat.

Als der Erzähler auf den Opel seines Vaters und dessen unrechtmäßige »Überführung« in den Osten Europas zu sprechen kommt, erklärt er nachdenklich: »Kann es einem Wagen lieber sein, an einer bestimmten Stelle gut zu stehen, als an verschiedenen Orten der Welt schlecht gefahren zu werden?« Wahrscheinlich nicht, wenn man erst einmal akzeptiert hat, dass einem Wagen etwas mehr oder weniger lieb sein kann. Solche grotesk-absurden Gedankensprünge muss man zu machen bereit sein, will man mit diesem Roman seinen Spaß haben. Ist dies aber der Fall, ist dem Vergnügen kaum Grenzen gesetzt.

Spinnen wir also ein wenig weiter: Was ist in einer solchen Situation, wenn Wagen etwas recht und billig sein kann, dann aber »artgerecht«? In welchem Verhältnis stehen Mensch und Umwelt dann eigentlich? Und wie kann man dem Überfordertsein des Menschen – davon kann man hier grundsätzlich ausgehen – beikommen? Fragen über Fragen, denen sich dringend jemand annehmen müsste. Wer, wenn nicht ein Allesforscher, sollte Antworten finden? Übergeben wir also an Heinrich Steinfest und seinen gleichnamigen Roman. Aber Vorsicht, denn »die Welt der Assoziationen liebt auch die Irrtümer«.