Literatur, Roman

Episoden eines geträumten Lebens

In seinem neuen Roman lässt Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano einmal mehr seine magische Feder durch Zeit und Raum gleiten und ein historisches Bild des Paris wiederauferstehen, das man in seiner Heimat lieber vergessen wissen möchte.

Paris in den sechziger Jahren. In der Stadt, die dreißig Jahre zuvor noch das intellektuelle Zentrum der Welt, eine Stadt der Philosophen, Literaten und Künstler war, ist inzwischen Alltag eingekehrt. Die französische Geschichte schlägt in der Hauptstadt weiterhin Kapriolen, sodass inzwischen auch einige zwielichtige Personen in Paris leben, deren politische Rolle nicht ohne Einfluss ist.

An dieses Paris erinnert sich Jean, der Erzähler in Gräser der Nacht, dem neuen Kleinod von Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano. Dabei streift er – halb träumend, halb flanierend – durch die Straßen und Cafés des alten Paris. Doch vor allem von Montparnasse, der Pariser Künstler- und Intellektuellenkolonie vom Anfang des 20. Jahrhunderts, wie sie Jean in seiner Imagination mit sich trägt, ist nichts mehr geblieben. »Das Viertel hatte seine Seele verloren«, wie er verdrossen feststellen muss.

Im Zentrum des bereits 2012 in Frankreich erschienenen Romans steht wie so oft in Modianos Literatur die Konfrontation des alten mit dem neuen Paris. Anlass dieser Gegenüberstellung ist hier die Notwendigkeit des Erzählers, seine Erinnerungen zu sortieren. Denn das Dossier, das ihm ein ehemaliger Ermittler in die Hand drückt, sowie die eigenen Gedanken, die er in seinem schwarzen Notizbuch aus jenen nebulösen sechziger Jahren findet, stimmen nicht überein. Dabei geht es Jean ähnlich wie Tony Webster, dem Ich-Erzähler in Julian Barnes Roman Vom Ende einer Geschichte, der von der eigenen Vergangenheit eingeholt wird.

Aber was sind schon Erinnerungen, wenn die eigene Vergangenheit vollkommen nebulös ist? Jean kennt weder seinen richtigen Namen noch die seiner Eltern. Auch sein genaues Geburtsdatum ist ihm unbekannt. Vermutlich ist er durch eine Adoption dem Holocaust entkommen. In seiner Figur ist das Drama des europäischen Judentums angelegt, das Modiano in seinen Romanen immer wieder aufgreift – ernsthaft und zugleich mit sanfter Ironie.

In den sechziger Jahren verkehrte Jean in Kreisen, die aus heutiger Perspektive zumindest zwielichtig wirken müssen. Die meiste Zeit hatte er mit Dannie verbracht, einer jungen Marokkanerin, deren geheimnisvollem Zauber er erlegen war. Verliebt tauchte er ein in ihren undurchsichtigen Alltag und verbrachte Zeit mit ihr. Bis sie eines Tages plötzlich verschwand und nie wieder auftauchte. Es blieben ihm die Erinnerung an die junge Frau und die sie umgebenden Figuren: Paul Chastagnier, Pierre Duwelz, Gérard Marciano, George B. und Ghali Aghamouri. Ihnen war er in den Unterkünften der internationalen Studentensiedlung am Rande von Paris oder im Hôtel Unic im Zentrum der Stadt begegnet.

Der medienscheue Patrick Modiano in der Börshuset in Stockholm unter der Schwedischen Akademie Pressekonferenz am 6. Dezember 2014 | Foto: FrankieF via wikimedia commons
Der medienscheue Patrick Modiano in der Börshuset in Stockholm unter der Schwedischen Akademie Pressekonferenz am 6. Dezember 2014 | Foto: FrankieF via wikimedia commons

In verschiedenen Episoden blickt Modianos Erzähler zurück auf die gemeinsamen Erlebnisse mit Dannie: vermeintlich unschuldige Nachmittage, unbedarfte Besuche ehemaliger Wohnungen sowie undurchsichtige Begegnungen und Geldübergaben. Selbst jetzt, mit der den Nebel lichtenden Ermittlungsakte in der Hand, fällt es ihm schwer, im trügerischen Schein der eigenen Erinnerung das Unübersehbare zu akzeptieren. Aber Liebe macht bekanntlich blind, nicht nur im Moment, sondern auch noch Jahre später.

Jean erinnert sich – in seinem schwarzen Notizbuch blätternd – auch daran, wie er eines Abends am Hôtel Unic vorbeikam und Ghali Aghamouri im Foyer des Hauses mit einigen der zwielichtigen Gestalten, die Dannie umgaben, diskutieren sah. Er stellte sich in seiner Erinnerung direkt vor die Frontscheibe – um auf sich aufmerksam zu machen oder etwas von dem Gespräch aufzuschnappen, er weiß es nicht mehr. Aber die Realitäten auf beiden Seiten der Scheibe begegneten sich nicht. Nur wenige Zentimeter voneinander entfernt nehmen die Männer im Hotel keinerlei Notiz von dem in den Raum starrenden Jean. »Vielleicht war die Scheibe von innen undurchsichtig, wie Einwegspiegel. Oder es trennten uns ganz einfach zig Jahre, sie waren festgefroren in der Vergangenheit, mitten in diesem Hotelfoyer, und wir lebten nicht mehr, sie und ich, in derselben Zeit.«

Es sind solche leisen, die Welt und ihre rätselhaften Zwischenreiche erkundenden Töne, die Modianos Werk prägen und ihm den Literaturnobelpreis eingetragen haben. Der Hanser-Verlag hatte Gräser der Nacht vorgezogen, nachdem der Franzose überraschend den Preis im Herbst 2014 erhielt.

Modiano ist einer der bedeutendsten französischen Gegenwartsautoren, insbesondere wenn es um die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs geht. Bereits Anfang der 1970er Jahren wurde ihm für seinen Roman Außenbezirke der Große Romanpreis der Académie Francaise verliehen, Ende der 1970er wurde sein Roman Die Gasse der dunklen Läden mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Sein Erstlingsroman Place de L’Étoile, den er bereits 1968 schrieb, wurde erst 2010 ins Deutsche übertragen. Er erhielt umgehend den Preis der SWR Bestenliste. 2012 erschien sein viel beachteter Roman Im Café der verlorenen Jugend, in dem er erstmals verschiedene Perspektiven nutzt, um Erinnerungsstücke zusammenzutragen. Im selben Jahr wurde er für sein Gesamtwerk mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet, übertroffen dann vom Literaturnobelpreis im vergangenen Herbst.

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Patrick Modiano: Gräser der Nacht. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag 2014. 175 Seiten. 18,90 Euro. Hier bestellen

In seinem Werk, das in großen Teilen bei Hanser und bei dtv neu aufgelegt wird, setzt er sich mit Erinnerung und Vergessen, Schuld und Identität auseinander. Seine Heimatstadt Paris spielt immer wieder eine wichtige Rolle, so auch in Gräser der Nacht. Wie in fast allen seiner Romane lehnt Modiano seine neue Geschichte an reale Begebenheiten, historische Fakten und autobiografische Ereignisse an. Hier ist es die sogenannte Affäre Ben Barka, die seit 1965 auf den diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und Marokko lastet. Im Oktober des Jahres wurde der gleichnamige marokkanische Politiker entführt und ermordet; die Rolle der französischen Sicherheitsbehörden ist bis heute nicht geklärt.

Die verlässliche Konstante in Modianos Literatur ist das Zauberhafte, das zwischen den Zeilen verborgen ist. Dieser Stil erinnert an den magischen Realismus der spanischen und lateinamerikanischen Literatur. In der wunderbaren deutschen Übersetzung von Gräser der Nacht durch Elisabeth Edl erfährt der Leser diese spannungsgeladene Magie im traumwandlerischen Verwischen von Vergangenheit und Gegenwart, von Wirklichkeit und Fantasie. Im Roman heißt es an einer Stelle, dass für den Erzähler »die Zeit wogt, sich weitet, dann wieder stillsteht und einem allmählich das Gefühl von Ferien und Unendlichkeit gibt, das andere in Drogen suchen«. Eine ähnliche Erfahrung macht der Leser bei der Lektüre dieses Romans.

Als Jean zwei Jahrzehnte nach dem Sommer mit Dannie – inzwischen ist er Autor anerkannter biografischer Werke, etwa über die haitianische Schauspielerin und Baudelaire-Geliebte Jeanne Duval oder den französischen Lyriker Tristan Corbière – versucht, sich zu erinnern, geraten Raum und Zeit in Bewegung. Aber auch die Unterschiede zwischen Wirklichkeit und Einbildung, zwischen Wachzustand und Träumerei geraten auf eine schiefe Ebene, auf der der Erzähler hinabgleitet in längst vergangene Welten. Gräser der Nacht ist die Dokumentation dieser Reise ins Innere und versammelt die »Episoden eines zeitlosen, geträumten Lebens«, die der Erzähler seinem »trüben Alltagsleben entreißt, damit es ein bisschen Schatten und Licht bekommt«.

Über die eindrucksvollen Bilder, die in Gräser der Nacht geschaffen werden, legt sich ein Schimmer Melancholie, sodass man meint, beim Lesen die gedämpften Farben der Vergangenheit vor Augen zu haben. Am Ende gesteht der Erzähler, er habe das Gefühl, »man habe in einem anderen Leben vergessen, das Licht auszuknipsen, oder jemand erwartet einen noch«. Dieses vergessene Licht wohnt im Zentrum dieses großen magischen Kleinods und lässt es raum- und zeitübergreifend leuchten.

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