Geschichte, Gesellschaft, Politik, Sachbuch

Der folgenschwere Speck auf den Hüften

Der Wiener Historiker Philipp Ther hat die Transformation der osteuropäischen Länder seit 1977 immer wieder erlebt, erfahren und erlesen. Sein mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnetes Wirtschafts-Reise-Reportagen-Tagebuch »Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent« ist nicht nur ein beispielloses Lehrstück über die Transformation Osteuropas, sondern lässt uns mit Blick auf Südeuropa auch verstehen, was passiert, wenn die Gegenwart selbstgefällig ignoriert wird.

Im Herbst 1987 hatte ich das Glück, an einer Klassenfahrt in den Nordosten der ehemaligen DDR teilzunehmen. Wir Schüler aus dem beschaulichen Südwesten der Bundesrepublik besuchten Städte wie Neubrandenburg, Greifswald, Stralsund, Schwerin und erlebten das, was Wolf Biermann 1990 als den grauen Osten besang. Als politisierter Pseudolinker aus gut christdemokratischer Familie hatte ich während der Exkursion allerdings nur Augen und Ohren für meine erste große Liebe. Vielleicht ließ ich mich auch deshalb hinreißen, meinem damaligen Französisch-Lehrer – stramm konservativ, streng, aber umgänglich – meine Einschätzung zur Lage der geteilten Nation zu verkünden. Zu einer Wiedervereinigung werde es nie kommen, wir Deutschen im Osten und Westen hätten uns zu sehr auseinandergelebt, wir würden uns gar nicht mehr verstehen.

Mit diesem gefühligen Statement irrte ich mich gewaltig, zwei Jahre später brach die DDR zusammen, trat der BRD bei und die Menschen im Osten wie im Westen träumten von blühenden Landschaften. Meine intensive Beschäftigung mit den Verhältnissen in Ost-Deutschland und Ost-Europa hatte sich damit erledigt. Ich begann mein Studium in Konstanz, von wo aus die Toskana geografisch wie gefühlsmäßig näher lag als Thüringen. Die Neigung zu »la dolce vita« und die falschen Sprachkenntnisse ließen mich eines der spannendsten, erfolgreichsten und katastrophalsten Ökonomie-Experimente in Tiefe verpassen.

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Philipp Ther hat dieses Experiment nicht verpasst. Er hat die Transformation der osteuropäischen Länder erlebt, erfahren und erlesen. Er ist seit 1977 immer wieder durch die Länder Ostmittel- und Osteuropas gereist, hat mit Menschen gesprochen und Geschichte wie Gegenwart analysiert. Herausgekommen ist ein spannendes Buch, das zu Recht als eines der besten Wissenschaftsbücher 2014 gelobt wurde und den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse erhalten hat. In der Begründung der Leipziger Jury heißt es: »Ein Geschichtsbuch, das, 25 Jahre nach dem Mauerfall, von der Gegenwart handelt. Reportagen, Analysen und Wirtschaftsdaten fügen sich zu einem Text über den postsowjetischen Raum, den lesen sollte, wer die jüngsten Konflikte in Europa verstehen will.«

In der Tat verbindet Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent – Eine Geschichte des neoliberalen Europas Historie mit Politik, Geschichte mit Gegenwart. Ther beschäftigt sich mit einem politischen Paradigma, das in den letzten Jahren immer mehr zum politischen Kampfbegriff wurde, dem Neoliberalismus. Dass ideologisches Handeln nicht nur vor 1989 herrschte, sondern auch danach, wird nach der Lektüre des Buches klar. Zum Glück ist Ther kein blinder Links- oder Rechtsaußen, sondern ein beeindruckender Historiker, der Erfolg wie Misserfolg neoliberalen Handelns aus den Ereignissen und Entwicklungen, die er auf- und nachzeichnet, herausschält.

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Mariana Mazzucato: Das Kapital des Staates. Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum. Aus dem Englischen von Ursel Schäfer. Verlag Antje Kunstmann 2014. 304 Seiten. 22.95 Euro. Hier bestellen

Der Umbruch Osteuropas fand in einer Zeit statt, in der auch die kapitalistischen Staaten in Westeuropa und Nordamerika mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hatten. Der Neoliberalismus fiel nicht vom Himmel, sondern hatte eine historische Verortung. Die ökonomischen Rezepte des Keynesianismus wirkten zu Zeiten einer Stagflation nicht mehr, die durch die wirtschaftlichen Verwerfungen infolge der Ölkrise in den 70er Jahren, durch die Rezessionen Anfang der 1980er Jahre und durch die steigenden staatlichen Budgetdefizite verursacht wurden. Das Leben war weder vor Entdeckung des Neoliberalismus noch nach der Einführung der Agenda 2010 ein ideales. Auch Margret Thatcher und Ronald Reagan waren ökonomisch nur Kinder ihrer Zeit und versuchten mit neuen, heute würde man sagen innovativen, wirtschaftlichen Rezepten, ihre kränkelnden Volkswirtschaften auf die Beine zu helfen. In den nicht-angelsächsischen Ländern versuchten Christ- wie Sozialdemokraten den Wohlfahrts- und Fürsorgestaat im Sinne der sozialen Marktwirtschaft aufrechtzuerhalten – allerdings zum Preis eines deutlich schwächeren Wirtschaftswachstums. Auch deshalb avancierten neoliberale Ideen zum Mainstream. Seinen historischen Sitz hat der Neoliberalismus in der Erkenntnis, dass die Rezepte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Weltwirtschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr funktionierten.

Das neue Leitrezept war der Washington Consensus, ein Konsens, darauf verweist Ther, der nie konsensual war. Er bestand aus dem Dreiklang Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung inklusive Rückbau des Staates, in dem sich nicht nur die antikommunistische, sondern ebenso die antisozialdemokratische Stoßrichtung neoliberaler Vordenker spiegelt. Welche katastrophalen Konsequenzen dies für das Selbstverständnis wirksamen Staatshandelns hatte, geht Marianna Mazzucato in ihrem Buch Das Kapital des Staates – Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum nach, das in Ergänzung zu Thers Buch dringend gelesen werden sollte.

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Als moving target ist die neoliberale Agenda nur schwer zu fassen. »Im Neoliberalismus gab es ebenfalls einige ideologische Fixpunkte, den Primat der Ökonomie, eine grundsätzliche Kritik am Staat sowie die Intention, ihn zurückzudrängen (eines der Motive hinter der breit angelegten Privatisierung), und ein bestimmtes Menschenbild, das des Homo oeconomicus«, schreibt Ther. Konkreter fasste es der Washington Consensus aus dem Jahr 1989. Die darin verfassten zehn ökonomischen Gebote hatten vor allem die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und das US-Finanzministerium festgeschrieben. Bewähren sollten sich die Gebote in den Staaten Südamerikas, die in den 80er Jahren von einer heftigen Inflation betroffen waren. Die hinter diesen Prozessen steckenden Funktionalitäten der Finanzwirtschaft sowie die daraus folgende Selbstermächtigung der Finanzinstitutionen zu einer verdeckt-offenen Weltregierung unter dem Deckmantel des Neoliberalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt Joseph Vogl eindrucksvoll in seiner Analyse Der Souveränitätseffekt.

Der Washington Consensus diente dann aber als Blaupause für die ökonomische Transformation der postkommunistischen Länder Osteuropas, die Transformation der Plan- in Marktwirtschaften. Insofern ist die Geschichte der Dreieinigkeit von Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung eine Geschichte wirtschaftlicher Probleme des Westens und ihrer theoretischen Durchdringungen – daher stets eine große Warnung vor Theoretikern –, der heroischen Revolutionen des Ostens wie die des zähen, von Arbeitslosigkeit, Armut, falschen Hoffnungen und ehrlichen Enttäuschungen begleiteten ökonomischen Umbaus in den ostmittel- und osteuropäischen Staaten.

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Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europas. Suhrkamp Verlag 2015. 432 Seiten. 26,95 Euro. Hier bestellen

Der Westen und der Osten waren kommunizierende Röhren. Veränderungen dort lösen Veränderungen hier aus. Was an der einen Stelle vermeintlich funktionierte, sollte an der anderen auch angewandt werden. Wobei – das sollte hier angemerkt werden – die Röhre eher in die eine Richtung als in die andere kommunizierte und immer noch kommuniziert. Ein Beispiel hierfür war Leszek Balcerowicz, Vordenker der polnischen Schocktherapie. Balcerowicz konnte in den Siebzigern in den USA studieren, obwohl (oder weil) er damals Mitglied der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei war. In den USA machte er sich mit neoliberalen Lehren vertraut, bevor er als Vizepremier und Finanzminister der ersten nicht-kommunistischen Regierung Polen mit dem Balcerowicz-Plan eine neoliberale, aber im Übrigen sehr erfolgreiche Radikalkur verordnete. Dieser ersten neoliberalen Welle Anfang der neunziger Jahre folgte etwa eine Dekade später eine zweite neoliberale Welle, just auch aus dem Grund, weil die ersten Reformen nicht die erhofften Wirkungen zeigten. Zudem wuchs der Wettbewerb unter den osteuropäischen Ländern, ein verhängnisvolles Wettrennen um die radikalsten Reformen, geringsten Sozialabgaben und niedrigsten Steuersätze begann. »Man kann daher resümieren«, schlussfolgert Ther, »dass sich der Neoliberalismus um die Jahrtausendwende generalisierte und radikalisierte.«

Das Herz seiner Studie bildet der Vergleich ostmitteleuropäischer Metropolen, der auch Berlin und Wien umfasst. Aufschlussreich ist Thers Vergleich von Berlin und Warschau. Warum war die Wirtschaftskraft der polnischen Hauptstadt von 2007 an größer als die der deutschen, obwohl in der neuen alten deutschen Hauptstadt die Bedingungen und die Voraussetzungen doch vielfach günstiger erschienen? Ein Grund dürfte gewesen sein, dass in Warschau eine kräftige »Transformation von unten« – gemeint sind die Veränderungen der Verhältnisse durch die Eigeninitiative der Menschen – zwar nicht unbedingt gefördert, aber eben auch nicht behindert wurde. Hunderttausende machten sich selbständig, eröffneten Kioske, handelten auf Basaren. Die Entwicklung hatte bereits in den achtziger Jahren in Polen begonnen, die West-Berliner hatten sie früh auf dem Polenmarkt auf dem Potsdamer Platz kennengelernt. Doch die Berliner fürchteten sich, schürten Vorurteile und unterbunden die Geschäfte: Sie vertrieben die Händler von jenseits der Oder. Den Ost- wie Westberlinern war in den Jahren der Teilung ein arbeitsarmes, aber subventionsreiches Leben gegönnt worden, Eigeninitiative an der Spree dies- wie jenseits der Mauer kannte man kaum. In Wien hingegen ließ man die Händler gewähren und profitierte entsprechend. Hinzu kam in Berlin größter Dilettantismus – die Immobilienspekulation der staatlichen Berliner Landesbank kostete das Land etwa 21,5 Milliarden. Wer sich über die Großbaustelle BER lustig macht, sollte wissen, dass es die Berliner noch viel schlechter können. Die Jahre zwischen 1995 und 2005 war für die deutsche Hauptstadt eine verlorene Dekade. »Insgesamt war es ein Bündel von wirtschaftspolitischen und kulturellen, äußeren und lokalen Faktoren, die dazu führten, dass die Armut Berlins geradezu sprichwörtlich wurde«, so die Einschätzung Thers. Und so leben die West-Berliner, die Ost-Berliner und die Neu-Berliner, die etwa die Hälfte der Einwohner der Stadt stellen, ein nur in Teilen verschränktes Leben. Man bleibt weiterhin gerne unter sich.

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Mit »Transformation von unten« ist ein wichtiges Stichwort gefallen. In der reinen neoliberalen Lehre gehören Marktwirtschaft und Demokratie eng zusammen. Wenn die vielen Kleinunternehmer und Selbständigen entscheidende und zu unterstützende Akteure der neuen ökonomischen Verhältnisse wurden, wie wurden die politischen Systeme verändert? Das negative Beispiel – vor allem in Russland und in der Ukraine anzutreffen – bietet der oligarchische Kapitalismus. Die politische Dimension der Veränderungen in Osteuropa ist hier völlig unter die Räder gekommen.

Die Veränderungen jenseits des Eisernen Vorhangs hatten aber eine gewissen »Kotransformation« der Länder diesseits des Eisernen Vorhangs zur Folge. Dies gilt in erster Linie für Österreich, aber auch für Finnland und selbstverständlich für Deutschland, das sich mit der Agenda 2010 einer nachholenden Modernisierung unterziehen musste. Im Süden Europas war der Druck geringer, und das dürfte, dies deutet Ther nicht nur zwischen den Zeilen an, einer der Gründe für die derzeitigen ökonomischen Schwierigkeiten sein. Auch wenn die neoliberalen Reformen zum Teil desaströs gewirkt haben, so ist der Versuch, Reformen zu vermeiden, die schlechteste Variante. Bulgarien und Rumänien haben dies in den neunziger Jahren bitter bereuen müssen, etliche südeuropäische Staaten bezahlen den Preis für die unterlassenen Reformen gerade jetzt. In diesen Staaten bezahlen nun vor allem die jungen Menschen, die späteren Generationen, diesen Preis.

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Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent ist ein beeindruckendes, ein lehrreiches Buch. Es belegt eindrucksvoll, dass Historiker immer noch die besseren Politikwissenschaftler sind. Vor allem vor der Folie der politischen Krise in der Ukraine wie vor der wirtschaftlichen Krise in Griechenland, Italien und Frankreich scheinen politische wie ökonomische Gewissheiten nur bedingt zu greifen. Viele neoliberale Rezepte haben nicht gewirkt, viele Menschen haben einen beachtlichen Preis für diese Ideologie bezahlen müssen.

Was uns dieses Buch aber auch lehrt, ist, dass Nicht-Handeln, Ignorieren und Verdrängen eben auch nicht funktionieren. Ther zeichnet das Bild eines Kontinents, dessen Entwicklungen an einem Ort früher oder später Folgen für die anderen Regionen Europas haben.

Im alten Westen hat man dies lange Zeit nicht verstanden. Und die Ignoranz des Verfassers dieser Zeilen spricht für viele, die aus der west- und süddeutschen Brille auf die Vorgänge jenseits der Elbe geschaut haben. Wir haben die Veränderungen dort nicht wahr-, nicht ernst genommen. Und schon gar nicht die Menschen, die sie in Bewegung gesetzt und verantwortet haben. Der Speck auf den Hüften hat das Denken nicht unbedingt befördert. Ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall können wir uns diese Borniertheit nicht mehr leisten, wir benötigen einen neuen Blick auf die Ordnung Europas – sowohl, was die Ukraine als auch was Griechenland angeht.

Die Fotografien sind von Thomas Hummitzsch und 2014 in Albanien und Mazedonien entstanden.

3 Kommentare

  1. […] des letzten Jahres gehofft, als mit Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent von Philipp The (hier zu unserer Rezension), Der Souveränitätseffekt von Joseph Vogl (hier zu unserer Rezension), Der lange Sommer der […]

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